Die Reise in die Nacht

»Steht mir zur Seite, solange ihr könnt. Einen Tag, eine Woche, ein Jahr, eine Minute. Was ihr auch geben könnt, wie lange ihr auch stehen könnt, ich nehme es dankend an.«

– Sabbat, Episteln

 

Es war sie.

»Ach, leck mich! Die Beati«, flüsterte Corbec.

Milo gaffte. Er war noch nicht über den Schock des Todes des Pilgermädchens hinweg und sah immer noch vor seinem geistigen Auge, wie es vor den Panzer lief, um ihn abzulenken. Die Szene kam ihm zu sehr wie eine Wiederholung der Geschichte vor.

»Brin!«, brüllte Corbec, doch Milo rannte bereits aus seiner Deckung.

»Du bist noch mal mein Tod, Junge!«, fügte Corbec hinzu, während er Chirias Hände abschüttelte und ihm folgte.

Milo rannte auf die Schnellstraße. Die Beati schien ihn gar nicht zu sehen. Gott-Imperator, aber sie sah in ihrer vergoldeten, gravierten Rüstung so wunderschön aus.

Er schrie etwas. Einen Moment später hatte Corbec ihn erreicht und riss ihn mit einem Hechtsprung zu Boden. Beide landeten hart und schrammten sich am Straßenbelag die Haut auf.

Die Koaxialwaffen des Todesklinge schwenkten herum, um die goldene Gestalt vor ihnen aufs Korn zu nehmen, und feuerten los, aber die Heilige war nicht mehr da. Die leere Stelle auf der Straße wurde mehrfach in ihre Bestandteile zerlegt und aufgelöst.

Mit einem einzigen Sprung hatte sie sich auf den Rumpf des gewaltigen Vehikels hinter der Demolierer-Kanone und neben dem Hauptgeschütz befördert. Das Schwert kreiste wie eine Sense in ihrer Hand.

Der massige Lauf des Hauptgeschützes fiel krachend auf den Rumpf und rollte dann auf die Straße. Die Schnittstelle am Stumpf des Geschützlaufs knisterte vor sich entladender elektrischer Energie.

»Du lieber Gott-Imperator …«, stammelte Corbec ungläubig.

Die Beati riss das Schwert hoch, fasste es mit beiden Händen und stieß es mit der Spitze voran tief in den Rumpf des Panzers.

Der Panzer blieb abrupt stehen. Sie hatte den Fahrer gefunden und getötet.

Die Dachluke klappte auf, und ein Offizier kletterte nach draußen und machte Anstalten, sich hinter die drehbar angebrachte Boltkanone zu klemmen. Sie sprang wieder, wobei sie einen Salto beschrieb, und landete auf den Füßen oben auf dem Turm hinter dem Luk. Ihre schnurrende Klinge durchschnitt Hals und Waffe gleichermaßen.

»Corbec … Corbec, haben Sie das gesehen …?«, keuchte Milo, der die Geschehnisse fasziniert beobachtete.

»Der Imperator beschützt ganz gewiss, mein Junge«, murmelte Corbec.

Die Beati zog eine goldene Granate aus dem Gürtel, schaltete den Zünder ein und ließ sie durch das offene Luk fallen. Dann sprang sie mit weitem Satz vom Panzer hinunter.

Milo und Corbec sprangen auf und rannten in Deckung.

Der Todesklinge explodierte nicht, stattdessen wogte Feuer durch sein Inneres und sprengte mehrere Luken weg. Ein Besatzungsmitglied taumelte brennend nach draußen und fiel auf die Straße.

Das nach unten zeigende Schwert locker in der rechten Hand, schritt die Beati mit dem brennenden Panzer im Rücken und in funkelnder Rüstung auf sie zu.

Milo und Corbec drehten sich zu ihr um.

»Ich wünsche einen guten Tag, Brüder«, sagte sie.

Beide Geister lächelten unwillkürlich.

»Das war erstaunlich, Heiligkeit«, sagte Milo.

»Heiligkeit?«, wies sie ihn zurecht. »Begrüßt ihr so eine Freundin? Ich bin Sabbat. Nennt mich so, wenn ihr mich etwas nennen müsst.«

Corbec sah Milo an. Er war verblüfft. Der Junge sah es wirklich nicht. Dies war Sanian, ein Mädchen, von dem Milo jahrelang geträumt hatte. Aber von Angesicht zu Angesicht erkannte er sie nicht wieder.

Doch bei näherem Hinsehen, ging Corbec auf, hätte er sie auch nicht wiedererkannt. Er wusste nur, dass es Sanian war, weil Gaunt es ihm gesagt hatte. Diese Frau, dieses Wesen, war nicht mehr die Esholi, die er auf Hagia kennengelernt hatte. Sanian war still, bescheiden und zurückhaltend gewesen. Diese Frau strotzte nur so vor Selbstsicherheit, Macht und Elan.

Und wenn Sanian ein Augenschmaus gewesen war, dann war die Frau vor ihnen schön. So schön, dass es schmerzte. Sie strahlte. Jenseits von allem Sex, jenseits von allem Verlangen. Sie war eine göttliche Inkarnation der Schönheit.

Und sie hatte soeben einen Superschweren Panzer in direktem Zweikampf besiegt.

Corbec kam sich plötzlich albern und erbärmlich vor.

»Das ist nichts im Vergleich zu den Heldentaten, die Sie in Ihrer Zeit vollbracht haben, Colm«, sagte sie zu ihm, als könne sie seine Gedanken lesen.

»Sie sind zu freundlich«, murmelte er.

Milo wollte etwas sagen, aber dann riss er sein Lasergewehr abrupt in die Höhe und zielte – so schien es – direkt auf ihren Kopf.

Er schoss, und der Schuss zischte über ihre linke Schulter hinweg. Ein Besatzungsmitglied aus dem Todesklinge war halb aus dem Seitenluk des Panzerwracks herausgeklettert und hatte eine Boltpistole erhoben und auf den Rücken der Beati gerichtet. Milos Schuss traf ihn in den Hals, und er fiel auf das Gesicht, während die Waffe auf den Rumpf des Panzers schepperte.

Die Beati zuckte zusammen und schaute sich um. Als sie sich wieder Milo zuwandte, lächelte sie strahlend.

»Seht ihr?«, sagte sie. »Seht ihr? Ohne euch bin ich nichts. Der Imperator, gesegnet sei seine göttliche Gnade, hat mir Kraft, Schnelligkeit und Macht über jedes menschliche Maß hinaus verliehen. Aber ich kann nicht allein gegen den Feind kämpfen. Allein würde ich überwältigt. Für das Überleben und für den Sieg verlasse ich mich auf euch … auf Sie, Milo und auf Sie, Colm, auf die tapferen Männer und Frauen der Imperialen Garde, auf alle meine Mitstreiter … eine Tatsache, die Milo gerade sehr deutlich demonstriert hat.«

»Wir dienen nur, Beati«, murmelte Corbec.

»Wir alle dienen nur, Colm«, versicherte sie ihm, indem sie ihm eine Hand auf die Stirn legte. Ein rasender Kopfschmerz, den er noch gar nicht richtig zur Kenntnis genommen hatte, die Nachwirkungen jenes entsetzlichen tiefen Geräuschs, ließ nach und verschwand. Er fühlte sich gut. Feth! Er fühlte sich wieder wie einundzwanzig!

»Wir alle gehen gemeinsam auf die Reise in die Nacht. Ich bin vielleicht so etwas wie … wie … ich weiß nicht genau. Zumindest eine Galionsfigur. Ein Sammelpunkt. Ein Anführer. Aber ich bin nichts ohne euch. Ein Anführer ist nichts, wenn er niemanden zum Anführen hat.« Sie sah beide an. »Versteht ihr das? Es kommt mir so vor, als redete ich Unfug.«

»N-nein!«, versicherte ihr Corbec.

»Wir verstehen«, sagte Milo.

»Hier geht es nicht um mich«, sagte sie. »Hier geht es um uns alle. Seelen aus dem Imperium, die sich zusammentun, um die Finsternis zurückzudrängen.«

»Wir verstehen«, wiederholte Milo. Sie wandte sich ihm zu und lächelte wieder.

»Ich wusste, dass Sie es verstehen würden, Milo. Tatsächlich ist es so festgelegt, im Warp. Sie werden jetzt bei mir bleiben. Bis das hier vorbei ist. Sie werden mich beschützen. Gaunt hat es versprochen.«

»Das werde ich, Beati«, sagte Milo.

»Sie haben doch keine Angst, oder?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich hätte welche«, sagte sie zu ihm.

 

Gaunt und seine drei Trupps trafen ein paar Minuten später ein. Gaunt starrte voller Verblüffung auf das Wrack des Superschweren Panzers.

»Was ist passiert?«, fragte er.

»Die Beati ist passiert«, sagte Corbec.

»Wo ist sie jetzt?«

»Sie rückt vor. Domors Trupp begleitet sie. Milo auch.«

»Milo?«

»Ich hatte den Eindruck, dass er befördert worden ist. Zu ihrem ganz persönlichen Spezi.«

Gaunt runzelte die Stirn. »Sie sehen müde aus«, sagte er zu Corbec.

»Es war ein langer Tag, Herr Kommissar.«

Und er würde noch länger dauern und nicht enden. Die Imperialen hatten der ersten Welle des Erzfeindes mit Mühe und Not standgehalten, und die Zweite war bereits im Anrollen. In diesem Kampf würde es keine Atempause geben. Der Feind würde die Civitas angreifen, bis sie fiel.

»Ich habe Verstärkung angefordert«, sagte Gaunt zu seinem Oberst. »Ich will, dass sich einige ausgepumpte Einheiten zurückfallen lassen und sich ausruhen. Sorgen Sie dafür, dass Ihre dazugehört.«

»Es geht uns bestens, Herr Kommissar«, protestierte Corbec.

»Ich weiß. Aber tun Sie es trotzdem. Soric zieht sich zurück, Haller, Burone, Ewler, Scafond, Folore und Meryn. Schließen Sie sich ihnen bitte an. Lassen Sie sich verarzten. Morgen wird es sich bezahlt machen, wenn ich Trupps wie Ihren frisch aus dem Hut ziehen kann.«

»Falls es ein Morgen gibt«, seufzte Corbec.

»Auf jeden Fall«, sagte Gaunt mit Nachdruck. »Und jetzt sammeln Sie Ihre Männer ein und ziehen Sie sich zurück.«

 

Corbecs Trupp schlenderte durch leere Straßen zu den inneren Auffangstellungen der Garde zurück, in erster Linie Geschützstellungen des Regiments Civitas Beati und der Planetaren Streitkräfte in Gildenhang, die mit Sandsäcken befestigt waren.

Sie konnten alle den Fortgang der Kämpfe am Stadtrand hören.

»Feldlazarett«, sagte ein Offizier der PS und zeigte in eine Richtung. Dorden und Curth hatten es in einer verwaisten Viehhalle eingerichtet. Corbec schickte seine Verwundeten dorthin, wurde selbst aber abgelenkt.

Er hatte etwas gehört. Ein Geräusch aus seiner Vergangenheit drang nostalgisch aus einem Hab gegenüber der Viehhalle.

Er ging hin und betrat das Habitat. Dieses Geräusch! Das Kreischen einer Holzsäge. Dieser Geruch nach Sägespänen, die Erinnerungen …

Hinter der niedrigen Tür lagerte ein Stapel gereiftes Holz. Hell, mit einer feinen Maserung. Corbec strich mit den Fingern darüber. Er hatte vergessen, welch ein großer Teil seines Lebens der Geruch und das Gefühl von Holz gewesen war. Welch ein großer Teil des Lebens jedes Tanithers.

»Kann ich Ihnen helfen, Soldat?«

Corbec drehte sich um und lugte ins dunkle Innere des Gebäudes. Ein alter Mann mit Sägespänen in seinem drahtigen Haar fütterte im Licht einer einzelnen Phosphalampe eine Tischsäge mit Holzbrettern.

»Ich … hatte nur nicht damit gerechnet, so etwas hier zu finden«, antwortete Corbec achselzuckend. Der alte Mann runzelte die Stirn, als wisse er nicht, was er darauf sagen sollte, und nahm ein neues Brett in seine behandschuhten Hände. Die Säge jaulte.

»Colm Corbec«, nickte Corbec dem alten Mann zu und streckte die Hand aus. Der Mann beendete den Schnitt, stellte das Holz dann beiseite und zog einen Handschuh aus, um Corbec die Hand zu schütteln.

»Guffrey Wyze. Sind Sie sicher, dass ich Ihnen nicht helfen kann?«

Corbec kratzte sich am Kopf und sah sich um. »Ich habe mal an so einem Ort gearbeitet. Mein Vater hatte eine Werkstatt daheim, aber er hat auch viel Holz zugeschnitten. Es war ein Holzland.«

Wyze nickte. »Wo war das?«

»Tanith.«

Wyze überlegte einen Moment und sagte dann ein einziges Wort, das Corbec schockierte. »Nalholz.«

»Sie kennen es?«

»Natürlich«, sagte der alte Mann. Er drückte auf den mit Gummi überzogenen Schalter an der Seite der Tischsäge und stellte sie ab, damit sie sich in normaler Lautstärke unterhalten konnten.

»Sie kennen es?«, wiederholte Corbec.

»Sehen Sie viele Wälder hier auf Herodor? Pflanzungen? Anlagen zur Holzgewinnung? Wir importieren von überall her. Leute mögen Holz. Es hat etwas Beruhigendes. Und ist auch vielseitig. Möbel, Rahmen, Wandvertäfelungen, was auch immer.«

Er winkte Corbec mit dem Finger zu einer Seitentür zwischen überladenen Regalen mit Werkzeugen, Töpfen und Schrott. Dahinter befand sich das Holzlager. Eine große Masse Holz reifte dort in offenen Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten und durch Gänge getrennt waren. Es roch nach Baumharz und Kernholz.

»Alles importiert«, sagte Wyze. »Das meiste ist Coloci, Weichahorn und Weißtoft von Khan, billiges Zeug. Alltäglich. Aber manchmal bekomme ich auch Ladungen mit besserem Zeug. Das da ist zum Beispiel halb geschnittene Pinie von Estima. Haben Sie schon mal bessere gesehen?«

»Das ist gut«, gab Corbec ihm recht, während er über die samtige Oberfläche des obersten Balkens strich.

»Und das ist reifes Shiln von Brunce. Ich habe hier irgendwo auch echte helicanische Fichte.«

Wyze ging den nächsten Gang entlang und bückte sich zu einem niedrigen Regal. Er riss eine Transportverkleidung aus Pappe von einer kleinen Menge eines dunklen Holzes. Es war staubig. Offenbar war es lange nicht angerührt worden.

»Da ist es. Ich wusste doch, dass ich noch was davon habe. Das benutze ich nur für ganz besondere Aufträge.«

Corbec kauerte sich neben ihn und wusste sofort, worauf er blickte. Er schluckte. »Nalholz.«

»Genau. Wundervolles Zeug. Und teuer.«

»Ich kenne es«, sagte Corbec. Qualitätsholz war Taniths einziger Artikel gewesen, der in großen Mengen exportiert worden war. Er hatte selbst in den Sägemühlen gearbeitet, vor Jahren, wo das Holz für den Versand grob zugeschnitten wurde.

»Ich weiß nicht mehr, was ich dafür bezahlt habe. Muss schon eine Weile her sein, aber als ich gesehen habe, was der Händler da hatte, habe ich nicht groß um den Preis gefeilscht. Dieses Zeug ist sein Geld wert.«

Corbec griff nach unten. Auf der Pappumhüllung der Ladung klebten noch die Reste eines Steueraufklebers des liefernden Händlers. Er las das verblichene Lieferdatum. Es lag fünfzehn Jahre zurück.

»Ich habe schon daran gedacht, noch mehr zu bestellen«, sagte Wyze.

Corbec seufzte. »Sie können nichts mehr bestellen«, sagte er. »Die Vorräte sind zur Neige gegangen.«

»Das ist ein Jammer«, sagte der alte Mann.

»Das ist es in der Tat.« Corbec konnte kaum glauben, was er sah. Er – und jeder andere Tanither – hatte angenommen, dass von ihrer Welt nichts mehr übrig war, außer ihnen selbst und den Dingen, die sie mitgenommen hatten. Aber hier war ein Stück von Tanith, das überlebt hatte, das von den Feuern verschont worden war. Wie viele andere kleine Relikte gab es noch, zum Beispiel in Holzgeschäften und Schreinerwerkstätten in diesem Sektor?

Und wie verdammt richtig es ihm vorkam, dass dieses Holz seinen Weg mit ihnen hierher gefunden hatte. Gaunt glaubte, das Schicksal habe sie an Herodor gebunden, irgendein großer, unsichtbarer Vorgang bestehend aus Zufall und kosmischer Synchronizität habe sie mit diesem Ort und dieser Zeit verbunden. Und hier war der Beweis dafür.

»Ich frage mich …«, begann Corbec.

»Was denn?«

»Ich frage mich, was Sie hier tun. Ich meine, jetzt, wo die Invasion läuft. Die Straßen sind leer, und alle haben sich in die Makropoltürme zurückgezogen. Warum sind Sie noch bei der Arbeit?«

»Kriegswichtige Arbeit«, sagte Wyze. »Gehört alles mit dazu.«

»Kriegswichtig? Woran arbeiten Sie denn?«

»Ich mache Särge«, sagte Wyze. »Davon werden wir eine Menge brauchen.«

Die Nacht brach herein. Die heftigen Kämpfe in den nördlichen Stadtteilen der Civitas flauten nicht ab. Sie erleuchteten die Nacht mit ihren Blitzen und Strahlen. Tiefer im Herzen der Stadt flackerten und leuchteten viele Tausend Feuer, die Folge des Granatbeschusses und der ständigen Luftangriffe. Alle paar Minuten rasten Heuschrecken aus der zunehmenden Dunkelheit im Tiefflug über die Stadt und warfen Bomben ab oder schossen mit den Bordwaffen in die Tiefe.

In den Obsidae landeten weiterhin die Invasionstruppen. Die schneeweißen Positionslampen der Landungsboote brannten wie Leuchtkugeln in der Luft. Die Landeplätze waren durch Reihen von Phosphalampen gekennzeichnet worden, und während sich in der Wüste der kalte Nachtwind erhob, formierten sich unter den Kommandos der Einweiser Panzerkolonnen und Infanteriebrigaden in ihrem Schein. Die Glasfelder erstrahlten im Glanz leuchtender Lampenkreise. Heuschrecken-Formationen jagten beständig über das Gebiet hinweg. Massige Transporter senkten sich herab, die bei der Landung Staubwände aufwirbelten und den Boden erschütterten. Regenbogenfarbene Schleusen öffneten sich an ihren dicken Flanken und gebaren Horden von Schleichpanzern. Andere landeten mit geöffneten Rampen wie Krokodile und Reihen von Panzern, gepanzerten Truppentransportern und Selbstfahrlafetten ergossen sich aus ihnen in die staubige Ebene.

Über ihnen leuchteten die unheilvollen Sterne der alles beobachtenden Feindschiffe am Himmel.

 

Saul, der Scharfschütze, kam durch Glaswerke in die Stadt. Den größten Teil des ersten Tages verbrachte er damit, den Fronteinheiten zu folgen, die Straße für Straße durch die Civitas pflügten. Saul hatte keine Aversion gegen das Kämpfen, aber hier auf Herodor hatte er nichts damit zu tun, also zog er es vor, sich nicht die Hände schmutzig zu machen. Er überließ die Schinderei den Todesbrigaden und den Panzern. Er redete mit niemandem, denn er bereitete sich geistig auf die Aufgabe vor, die der Magister ihm gestellt hatte, aber er ließ das Helmkom auf Empfang geschaltet und hörte den ganzen Tag dem Kom-Verkehr seiner Einheiten zu. Gelegentlich wechselte er auch auf eine Feindfrequenz.

Angeblich waren deren Kom-Signale verschlüsselt, aber ihre Techmagier hatten die imperiale Verschlüsselung in den ersten Stunden des Angriffs geknackt. Saul sprach fließend Niedergotisch. Er fand es nützlich, das Geschwätz der schwachen Seelen zu verstehen, auf die er Jagd machte. Als seine Einheiten gegen Mittag ihre Störwaffen eingesetzt hatten, war er sehr enttäuscht gewesen, das imperiale Signal zu verlieren.

Jetzt war es wieder da. Das freute ihn, auch wenn es bedeutete, dass der Feind zumindest ein paar der speziellen Psionikervehikel ausgeschaltet haben musste.

Bis zum Einbruch der Nacht hatte er die Kreuzung Prinzipal VI und Brazenstraße erreicht. Das konnte er seiner Kartentafel entnehmen. Die Techmagier in der ersten Welle hatten den Datenbanken der taktisch-logistischen Zentrale der Civitas in der ersten Welle Straßenkarten und Stadtpläne buchstäblich entrissen, da die vom Feind eingesetzten Schutzprogramme geradezu lächerlich primitiv waren. Die Informationen flossen von den Techmagiern an der Oberfläche zu den Kriegsschiffen zurück, wo sie abgeglichen und dann jedem an der Oberfläche mit der entsprechenden Ausrüstung zugänglich gemacht wurden, also Offizieren, Truppführern, Panzerkommandanten und Saul. Dadurch erschloss sich ihm ein sich ständig erneuerndes und ergänzendes Bild der Stadt auf seiner Datentafel.

Die Imperialen hatten sich an diesem ersten Tag gut geschlagen, das musste man ihnen lassen. Sie hatten die Bezirke Masonae und Eisenhalle gehalten, obwohl es sie teuer zu stehen gekommen war. Bis zum Morgen würde sich jedoch ein anderes Bild bieten, davon war Saul überzeugt.

In Glaswerke waren die Imperialen im Laufe des Tages dreimal in die Flucht geschlagen worden und hatten sich jedes Mal zurückfallen lassen und ihren Widerstand verstärkt. Dem Kom-Verkehr der Imperialen hatte Saul entnommen, dass Glaswerke hauptsächlich von Soldaten der einheimischen PS und des RCB verteidigt wurde. Der Bereichskommandeur war ein Oberst namens Vibreson.

Dieser Vibreson machte noch das Beste aus einer schlimmen Lage. Bei Anbruch der Nacht hatten seine Truppen den Vorstoß des Blutpakts entlang der Habitate auf der Brazenstraße und der Glasstraße zum Stillstand gebracht. Die Einheiten der Todesbrigade, denen Saul den ganzen Tag gefolgt war, hatten sich nun verschanzt und kamen nicht mehr voran.

Das passte Saul ganz und gar nicht. Er musste weiter, tiefer in diese Stadt eindringen, wo ihn sein Ziel erwartete. Ihm ging auf, dass die Zeit gekommen war, auf eigene Faust weiterzumachen.

Der Scharfschütze setzte sich neben einem abgefackelten Habitat auf den Randstein, nur ein paar Hundert Meter von den schweren Kämpfen an der Front entfernt, und holte seine Datentafel heraus. Er rief den entsprechenden Kartenabschnitt auf und betrachtete den kleinen Bildschirm, während er dem feindlichen Kom-Verkehr lauschte.

Blutpakt-Einheiten rannten an ihm vorbei, die er ignorierte. Die Nacht kam, und das war seine Zeit, eine Gelegenheit, die Dunkelheit auszunutzen und weiter vorzurücken. In der Nacht konnte er sich seinem Ziel bis auf Schussweite nähern, und dann brauchte er nur noch zu warten, still und stumm wie eine Leiche, bis der Augenblick gekommen war.

Saul wechselte die Frequenz und lauschte eine Weile dem Kom-Verkehr seiner eigenen Seite. Offiziere schrien nach mehr Panzern für einen Vorstoß durch die Abwehrstellungen der Brazenstraße und benutzten dabei den Namen des Magisters als Drohung und als Versprechen. Saul lächelte. Das war nicht gut. Die Imperialen waren zu gut verschanzt. Ihre Linie würde noch eine ganze Weile halten.

Gegen brutale Gewalt. Gegen einen offensichtlichen Angriff.

Aber Saul hatte eine mörderische Kriegserfahrung. Ihre Linie würde nicht halten gegen Furcht und Verwirrung. Keinen Augenblick. Furcht und Verwirrung würden in einer Minute erreichen, wofür eine ganze motorisierte Division einen Tag brauchte.

Er schaltete wieder auf die Frequenz der Imperialen um. Er lauschte auf das Wort »Trommelwirbel«. Die Imperialen – diese armen Narren – standen so auf ihre Codenamen. Sie hielten sich für so unglaublich schlau. Sie erwähnten Vibreson nie namentlich, aber genau das war die Bedeutung von »Trommelwirbel«. Trommelwirbel wurde in der Castenstraße gebraucht. Trommelwirbel würde mit zwölf Trupps zur Ravenorkreuzung marschieren. War Trommelwirbel einverstanden mit der Entsendung von PS-Elf zum Sespre-Aquädukt?

Idioten. Es war wie ein Spiel von Kindern, die versuchten, Erwachsenen die Wahrheit zu verheimlichen. Das war schon immer der Fehler der Imperialen gewesen. Sie betrachteten die Armeen des Warps als Abschaum, also gingen sie davon aus, dass sie dumm waren.

Wo war Trommelwirbel jetzt?

»Trommelwirbel, hier ist Wachposten. Bitte antworten.«

»Wachposten, ich höre. Wie ist die Lage?«

»Schweres Feindfeuer, sehr schweres. An der Kreuzung Brazenstraße und Filipistraße. Bitte um Unterstützung.«

»Halten Sie aus, Wachposten. Ich schicke Ihnen Wirbel eins und zwei in fünf Minuten. Hier bei VI ist die Hölle los. Die Kiodrus-Kapelle liegt unter massivem Beschuss.«

»Verstanden, Trommelwirbel. Kommen Sie zurecht?«

»Bleiben Sie auf Empfang.«

Saul warf einen Blick auf seine Tafel. Er zog den rechten Handschuh aus und folgte der Linie des Prinzipal VI mit einem von Narben entstellten Mittelfinger. Er hatte den rechten Zeigefinger eingeschlagen, sodass er geschützt auf der Handfläche lag. Er war der einzige Teil seiner Hände, der nicht vernarbt war. Schließlich war er sein Abzugsfinger.

Die Kiodrus-Kapelle. Da war sie. Ein Tempel zum Andenken an einen unfähigen Kommandeur, der in grauer Vorzeit der Heiligen zur Seite gestanden hatte. Anscheinend machte ihn das zu etwas Besonderem.

Saul stand auf und verstaute die Tafel in seinem Beutel. Er zog den Handschuh wieder an und nahm sein Präzisionsgewehr.

Er brauchte zwanzig Minuten, um sich auf der Rückseite der Habs zum Prinzipal VI zu schleichen, da er den Truppen seiner eigenen Seite ebenso aus dem Weg ging wie denen des Feindes.

Er konnte die Kapelle sehen, ein hohes, ehrwürdiges Gebäude aus Quadersteinen. Die Fassade war durch Granatlöcher entstellt. Laserstrahlen zuckten vor ihm über die Straße. Rauch nebelte die Nachtluft ein.

Saul ging tief geduckt zu einem Hab auf der anderen Seite der breiten Allee und trat die Tür aus den Angeln. Das Haus war schmutzig und stank. Aus den gemeinschaftlichen Speisekammern in jeder Etage des Gebäudes drang der Geruch nach verdorbenem Essen.

Der Scharfschütze ging in die fünfte Etage und brach in eine Wohneinheit ein. Ein Blick verriet ihm, dass der Blick aus dem Fenster nicht ganz richtig war, also verließ er die Wohneinheit wieder und ging noch eine Etage höher.

Besser.

Er öffnete das Fenster und klemmte es mit einem Holzbein fest, das er von einem Stuhl abbrach.

Dann machte er sich bereit.

Saul schaltete sein Zielfernrohr ein. Es surrte und blinkte, dann baute sich das Bild auf. In Grün und Schwarz, lichtverstärkt, hochauflösend. Er schwenkte es hin und her. Die Vorderseite der Kapelle. Die Seite. Die Gasse daneben. Die Barrikaden. Jetzt sah er grelle Lichtfäden. Laserstrahlen. Die Mündungsblitze mehrerer Autokanonen. Er korrigierte die Einstellung des Blitzkompensators.

Er sah Gestalten. Imperiale. Dunkle Flecken. PS und RCB in der Verteidigung, von der Straße hinter ihrer soliden Deckung unsichtbar, aber aus dieser Höhe ach so verwundbar.

Wo bist du, Trommelwirbel?

»Trommelwirbel, hier ist Wachposten. Bitte antworten Sie, es ist dringend!«

»Ich höre, Wachposten. Wir sind gerade etwas beschäftigt.«

»Sie setzen uns schwer zu, Trommelwirbel.«

»Verdammt, ich sagte, Sie sollen warten!«

Saul schwenkte sein Zielfernrohr wieder hin und her. Ein Munitionsverteiler lief mit einer Kiste zur Barrikade. Ein Sanitäter hatte sich über einen reglos daliegenden Mann gebeugt. Drei Soldaten, die aus einer Deckung schossen. Ein Kom-Soldat auf einem Knie, der jemandem ein Sprechgerät hinhielt.

Der jemandem ein Sprechgerät hinhielt, dessen Körpersprache frustrierte Verärgerung zum Ausdruck brachte.

»Hallo, Trommelwirbel«, sagte Saul leise auf Niedergotisch, während er ob des merkwürdigen Klangs in sich hineingrinste.

Er hatte den rechten Handschuh ausgezogen, sodass seine Hand nackt war, und sie bereits um den Griff gelegt. Sein einer unversehrter Finger war sanft um den Abzug gehakt.

Mit der anderen Hand zog er ein Todesmagazin aus dem Gürtelbeutel und rastete es in den Bauch des Präzisionsgewehrs ein.

Die Waffe summte leise, und ein kleines rotes Licht leuchtete auf.

Aufgeladen und schussbereit.

»Im Namen der Beati, Trommelwirbel! Wir werden hier massakriert!«

»Halten Sie die Klappe, Wachposten! Halten Sie den Laden zusammen. Wirbel ist zu Ihnen unterwegs. Halten Sie den Laden zusammen, dann passiert keinem was.«

Ein Versprechen, das du wohl nicht halten kannst, dachte Saul.

Er brauchte für den Schuss nicht den Atem anzuhalten. Es war nicht nötig. Seine Lunge war schon vor dreißig Jahren durch künstliche Lufttauscher ersetzt worden, die ihr Werk ohne bewegliche Teile verrichteten und daher auch keine Körperbewegung verursachten. Er schaltete sie einfach aus und wurde starr, eine lebende Statue.

Das Präzisionsgewehr knisterte.

Saul holte die Waffe ein und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.

»Bitte wiederholen?«

»Tot! Er ist tot!«

»Bitte kommen, Trommelwirbel!«

»Er ist tot! Vibreson ist tot!«

So viel zu euren albernen Codenamen, dachte Saul.

 

Furcht und Verwirrung. Verheerender als eine ganze Panzerdivision. Die PS-Soldaten rings um die Kapelle gerieten in Panik, nachdem ihr geliebter Anführer gefallen war. In weniger als fünfzehn Minuten weitete sich diese Panik zu einem verhängnisvollen Faktor aus.

Unter dem Ansturm der Todesbrigaden gab die Linie nach. Gleichzeitig wurde sie noch an sechs anderen Stellen entlang des Prinzipal durchbrochen. Die führerlosen imperialen Verteidiger verloren den Kopf und wurden abgeschlachtet.

Bis Mitternacht waren die Angreifer bis zur Lomanstraße gekommen und nur noch ein paar Häuserblocks vom Astronomenring tief im Westsektor der Stadt entfernt. Saul folgte der Flut in ihrem blutigen Kielwasser durch brennende Straßen, in denen es von toten PS-Soldaten wimmelte.

Kurz nach Mitternacht schob er sich allein und zu Fuß an der Front seiner eigenen Soldaten vorbei und tauchte in den dunklen Straßen der Stadtmitte und Gildenhangs unter. Die sich rasch zurückziehenden, schlecht organisierten imperialen Verteidiger waren leicht zu umgehen.

Das Ziel erwartete ihn.

 

Der Krieg grollte weit über ihm wie der Albtraum eines anderen. Beine klatschten durch warmes Wasser. Karess drang weiter vor. Wenn die Kalksteinkavernen zu eng wurden, benutzte er seine Strahler, um sie zu öffnen. Es roch nach erhitztem Gestein und Asche.

Karess konnte den Geruch nicht wahrnehmen. Er konnte die Hitze nicht spüren. Er spürte nichts außer dem maschinell hervorgerufenen Schmerz seines Wesens. Meter um Meter arbeitete er sich in den Bauch der Civitas voran.

 

»Der Westen ist gefallen«, sagte der Adjutant aus der Leibkompanie.

Kaldenbach wandte sich ihm mit gepeinigter Miene zu.

»Gefallen?«

»In die Flucht geschlagen, Herr Oberst. Nicht mehr da. Vibreson ist tot. Sie fallen jetzt durch Glaswerke ein.«

In dem Raum, einer kleinen Kammer im Keller einer Manufaktur in Eisenhalle, wurde es still. Die Phosphalampen flackerten. Kom-Offiziere schauten von ihren tragbaren Apparaten auf, die sie in der improvisierten Kommandozentrale aufgebaut hatten.

Kaldenbach hielt Eisenhalle jetzt schon beinahe achtzehn Stunden und war außerordentlich stolz auf diese Leistung. Die Garde-Abteilungen unter Gaunt im Osten hatten sich ebenfalls gut geschlagen, aber Kaldenbach fand, dass ihre Bemühungen nichts waren im Vergleich zu seinen und denen seiner Männer. Der Feind hatte zwei Angriffe auf Eisenhalle unternommen, und er hatte sie abgewehrt.

Wenn Glaswerke gefallen war, dann hatte er plötzlich eine weit offene linke Flanke.

Kaldenbach winkte Hauptmann Lamm zu sich und zum hololithischen taktischen Schirm. »Wir gehen hier auf dem Zahnfleisch, Hauptmann. Sie müssen unsere Flanke schützen. Hier, hier und hier. Benutzen Sie Prinzipal II als Verteidigungslinie.«

»Mit Freuden. Was können Sie mir geben?«

»Neun Einheiten. Ihre eigenen Transporter. Ich rufe den Marschall über Kom und veranlasse, dass er Ihnen Verstärkung schickt.«

»Er wird mehr tun müssen als das, Herr Oberst«, sagte Hauptmann Lamm. »Er muss die Linie der Truppen in Gildenhang ausdehnen, sonst können wir auch ebenso gut gleich aufgeben.«

Kaldenbach nickte. »Gehen Sie dorthin, Lamm«, befahl er. »Kom-Offizier … zu mir!«

 

Die Nachtluft war bitter und trocken. Lamm eilte mit seinen Truppen durch die leeren Straßen dem Feuerschein entgegen, der den Vorstoß des Feindes markierte. Sie hatten alle auf die Atemmasken umgeschaltet. Bei dieser Invasion waren schon zu viele Luftreiniger zerstört worden.

Seine viel zu weit aufgefächerten Einheiten erreichten Prinzipal II, und einige bekamen Feindkontakt. Lamm brach in ein Habitat ein und ging mit einem Signalmann und drei seiner Offiziere in die oberste Etage, um sich einen guten Überblick zu verschaffen.

Lamm kniete sich vor ein Fenster und ließ den Feldstecher über die brennende, sterbende Civitas unter sich wandern. Feuer und Explosionen waren so grelle weiße Lichtpunkte, dass sie die Filter des Geräts überforderten.

»Da«, sagte Lamm. »Da, der Gehweg. Dahin muss sofort eine Einheit.«

Der Signalmann antwortete nicht.

Lamm sah sich um und blinzelte, um seine Augen an die Düsternis in dem Raum zu gewöhnen. Von Forbes, seinem Signalmann, war nichts zu sehen. Auch nicht von den drei anderen Offizieren.

Lamm erhob sich verwirrt.

»Was …?«, begann er.

Er hörte, wie sich etwas im angrenzenden Badezimmer bewegte.

»Das ist ungehörig, ihr Idioten!«, bellte er, zog aber dennoch seine Pistole. »Wo sind Sie, Forbes? Wir haben keine Zeit für Scherze!«

»Antworten Sie!«

Die knisternde Stimme ließ Lamm zusammenfahren. Sie kam aus dem Kom-Gerät. Es lehnte an der Wand. Von dem Signalmann, der es getragen hatte, war keine Spur zu sehen.

Aus dem Badezimmer drang wieder ein Geräusch. Lamm hob die Pistole und schoss auf die Tür. Der Laserstrahl bohrte ein Loch durch das Fasermaterial. Licht fiel hindurch. Mit dem Lauf seiner Pistole stieß er die Badezimmertür auf.

Die Deckenlampe war an und verbreitete einen schirmlosen, grellen Schein.

Lamm hatte Forbes und seine drei Offiziere gefunden. Sie lagen in der Plastikbadewanne.

Man hatte sie ihrer Kleidung und Haut sowie aller Unterscheidungsmerkmale beraubt. Die Wanne war bis zum Rand mit einer dickflüssigen, glänzenden Suppe aus Blut, Fleisch, Knochen und Organen gefüllt. An der Seite lief Blut den Wannenrand herunter auf den gefliesten Boden.

Lamm ächzte ungläubig, dann sank er auf die Knie und übergab sich.

Er hörte ein Rascheln hinter sich im Dunkeln. Es war das Rascheln eines Mantels. Eines Mantels aus nasser Menschenhaut.

Lamm fuhr herum und jagte Schuss um Schuss auf die Wand im anderen Raum.

Er hörte auf zu schießen und erhob sich. Die Waffe in seiner Hand zitterte leicht. Sein eigener keuchender Atem hörte sich viel zu laut an. Er ließ die Pistole nach rechts und links wandern. Hatte er es getötet? Hatte er?

Lamms Brust fühlte sich plötzlich warm an. Er blinzelte und hob die Hand. Seine Brust war über und über mit dickflüssigem, heißem Blut bedeckt.

Seine Hand fuhr an seinen Hals, und zwei seiner Finger glitten unerwartet durch einen Schlitz darin, der zehn Sekunden zuvor noch nicht da gewesen war. Seine Fingerspitzen stießen gegen den entblößten Kehlkopf, die Nackensehnen und die Speiseröhre. Seine Kehle war durchschnitten. Er empfand eigentlich keinen Schmerz, nur gewaltige Überraschung.

Skarwael beendete sein Kunstwerk. Sein Boline, doppelschneidig und monomolekular scharf, bohrte sich in Lamms schwankende, vergeblich nach Luft schnappende Gestalt. Er legte das Rückgrat bloß, während der Mann noch aufrecht stand, und durchschnitt Nieren und Lendenmuskeln.

Blut spritzte unter dem Druck heraus. Skarwael öffnete den Mund und streckte seine lange graue Zunge heraus, als es ihn traf.

Lamm fiel auf das Gesicht.

Skarwael verschmierte das Blut auf den Wangen rund um seine tiefen Augenhöhlen. Dadurch wirkten sie vor seiner straffen, weißen Haut noch dunkler und schienen noch tiefer in den Höhlen zu liegen.

Er seufzte. Mit der Beati würde er nicht so geduldig und gnädig umgehen.

 

Pater Sünde forderte seine augenlosen Schützlinge zum Schweigen auf und schmiegte sie an sich. Sie marschierten in der Dunkelheit den Prinzipal I entlang. Feuer brannten ringsumher, und die zwergenhaften Psioniker waren scheu und ängstlich. Sie waren mitten auf der breiten Schnellstraße.

Gestalten kamen vor ihnen aus der Deckung. Imperiale Soldaten. Ihre Lasergewehre waren erhoben. Sie riefen etwas, da sie sicher waren, dass sich kein Feind so unverfroren in aller Offenheit nähern würde. Ein ausgebombter Pilger mit seinen Kindern, verzweifelt und hilfsbedürftig, der ziellos umherirrte … das waren sie …

Sünde beugte sich herab und flüsterte den Zwergen etwas ins Ohr, und sie zitterten. Sie öffneten ihre feuchten Mundschlitze weit. Ein tiefes Summen lag plötzlich in der Luft.

Die Imperiumssoldaten blieben abrupt stehen und sahen einander stumpfsinnig an. Dann eröffneten sie das Feuer. Nach fünf Sekunden waren sie alle tot, ein Kamerad vom anderen erschossen.

Die kleinen missgestalteten Wesen schlossen den Mund, und Sünde tupfte ihnen mit dem Saum seines Seidengewands den Speichel aus den Mundwinkeln. Dann nahm er sie bei der Hand, einen auf jeder Seite, und führte sie an den Leichen vorbei. Die Psioniker stolperten widerstrebend mit wie sehr junge Kinder. Einer öffnete und schloss den Mund auf eine weiche, aufgeregte Art. Der andere hatte den freien Arm erhoben und gebeugt und wedelte mit der Hand vor seinem Ohr hin und her.

»Wir sind bald da«, gurrte Sünde seinen Zwergen immer wieder zu. »Bald da …«

 

Viktor Hark kroch durch die feuerbeschienenen Trümmer Masonaes. Er hatte seine Plasmapistole gezogen.

»Mkendrick?«, fragte er ungeduldig über Kom. »Mkendrick? Wo sind Sie, verdammt?«

Trupp achtzehn antwortete nicht. Er hatte die Querstraße an der Armonsfahl-Allee West gehalten, aber seit fünfzehn Minuten meldete er sich nicht mehr über Kom.

Diese Verzögerung hatte Hark gerade noch gefehlt. Seine Gedanken waren eigentlich bei Soric. Er wusste nicht, wie er es Gaunt beibringen sollte, aber seine Pflicht war klar. Soric musste sterben. Er war eine Belastung. Ein Psioniker-Schandfleck. Er war eine Gefahr. Meryn hatte recht gehabt. Nicht einmal Sorics eigene Männer, Leute wie Vivvo, konnten ihn noch länger verstecken.

Hark war traurig deswegen. Soric war ein guter Mann, und die verghastitischen Geister liebten ihn. Aber das änderte nichts an der Wahrheit, dass Soric zu gefährlich war, um weiterleben zu können. Viel zu gefährlich. Er musste schnellstens eine Kugel in den Kopf bekommen, bevor es zu etwas Schlimmerem kam.

Das war die Aufgabe eines Kommissars. In simplen Worten. In Schwarz und Weiß. Das war seine Pflicht. Und wenn Hark eines war, dann ein ergebener Sklave seiner Pflichten.

Hark stolperte und fiel auf das Gesicht. Seine Pistole flog in die Dunkelheit der Straßenschatten davon. Er verfluchte seine Dummheit und schaute zurück, um festzustellen, worüber er gestolpert war.

Hark erstarrte.

Er war über Mkendrick gestolpert. Der Tanither war tot, explodiert, zerfetzt. In der näheren Umgebung der Straße konnte Hark jetzt langsam andere Leichen in der Dunkelheit ausmachen. Lentrim, Mkauley, Dill, Commo … alle Männer und Frauen des Achtzehnten Trupps. Alle tot.

»Ach du heiliges Terra …«, murmelte Hark und wollte sein Helmkom einschalten. Dann erstarrte er. Außer dem Geruch nach Ruß und Blut konnte er plötzlich einen Gestank wie nach zerstoßener Minze und saurer Milch wahrnehmen.

Er blickte auf und sah sie.

Die Drillinge schlängelten sich so dicht nebeneinander über die Straße, dass sich ihre klamme graue Haut berührte. Wenngleich zu dritt, bewegten sie sich wie einer. Ihre Waffengeschirre klickten, als sie nachluden.

Hark griff nach seiner gefallenen Plasmapistole, aber sie war zu weit weg. Er wälzte sich herum und riss seine Ersatzwaffe heraus, einen stummelläufigen Revolver, der feste Kugeln verschoss.

Er gab einen Schuss ab. Die Kugel traf einen der Loxatl in die fettige Flanke, und er fing an zu zischen und zu pfeifen wie ein Kessel mit kochendem Wasser auf einem Feldbrenner.

Seine zwei Brüder schossen mit ihren Flechettewerfern.

Hark erbebte, als sei er in den Sog eines großen, ganz dicht an ihm vorbeirasenden Vehikels geraten. Doch er fiel nicht und verspürte auch keine Schmerzen. Er drehte sich langsam um. Drei Meter entfernt sah er seinen linken Arm sauber abgetrennt in einer sich ausweitenden Lache arteriellen Blutes liegen. Auf dem linken Auge sah er auch nichts mehr.

Mit einem wütenden, hilflosen Aufschrei fiel Hark auf den Rücken und begann mit dem raschen, unfreiwilligen Geschäft, sich zu Tode zu bluten.


ZEHN

Der zweite Tag

»Unser großmächtiger Marschall Lugo sagt ›Sieg oder Tod!‹. Was bringt ihn auf die Idee, wir hätten eine Wahl?«

– Rawne

 

Ein paar Minuten vor Sonnenaufgang des zweiten Tages gab Lugo von seinem Kommandoposten hoch oben in der Makropole den Rückzugsbefehl.

Nachdem die Vororte im Nordwesten weit offen standen, war der Bezirk Eisenhalle in der zweiten Nachthälfte unter zunehmenden Druck geraten, und Kaldenbach hatte schließlich widerstrebend durchgegeben, seine Einheiten könnten nicht länger standhalten.

Als der Befehl Gaunt erreichte, fluchte er, obwohl er den Sinn darin sah. Wenn Kaldenbach sich zurückfallen ließ, würde Masonae ganz allein dastehen, eine Ausbuchtung in der Front, die der Zange der rechts und links daran vorbeiströmenden Truppen des Erzfeindes hilflos ausgeliefert sein würde.

Die Nordbezirke der Civitas mussten aufgegeben werden.

Glücklicherweise war Kaldenbach ein vernünftiger und methodischer Anführer. Er brach mit seinen überbeanspruchten Einheiten nicht einfach in eine wilde Flucht aus. Er wusste, wie wichtig ein geordneter Rückzug war, dass der Raum nur für die taktische Konsolidierung hergegeben werden durfte. Er koordinierte ihn mit Gaunt, damit die gesamte Linie so sauber wie möglich zurückgezogen werden und sich gegenseitig Deckung und Unterstützung geben konnte.

Es war ein zäher, blutiger Vorgang, und er dauerte fünf Stunden. Bei mehr als einem Dutzend Gelegenheiten stand er kurz vor dem Scheitern. Zweimal zogen sich PS-Panzer an der Glaswerke-Flanke zu schnell zurück, ohne den Infanterietruppen nördlich von ihnen Deckung zu geben, und schufen dadurch Lücken, die Kaldenbach nur mit viel Glück stopfen konnte. Dann hätte ein gegen Kaldenbachs eigene Kommandosektion gerichteter Vorstoß feindlicher Panzerfahrzeuge beinahe mit Gewalt die Entscheidung herbeigeführt, doch das drohende Verhängnis wurde durch einen improvisierten Gegenangriff von Männern des Regiments Civitas Beati abgewendet. Gaunts sich zurückziehende Einheiten hatten unter Luftangriffen zu leiden, von denen drei die Linie stark in Mitleidenschaft zogen und zu gefährlichen Augenblicken innerhalb der Rückzugsbewegung führten, da Einheiten der Angreifer die Schwächen auszunutzen versuchten. Dann wurden Daurs Einheiten nach Osten in die Farkindelstraße geschickt, um eine Reihe von Trupps zu stützen, die sich unter starkem Beschuss zurückzuziehen versuchten, doch Daur kam nicht durch, weil ihm der Weg durch einen Großbrand versperrt wurde. Raglons Trupp, der bereits ein gewisses Maß an Sicherheit erreicht hatte, rückte mutig wieder vor und konnte gerade noch die Unterstützung leisten, die Daur zu geben nicht imstande war.

Jede dieser Beinahe-Katastrophen hätte leicht ein Loch in die zurückweichende Linie der Garde reißen können, das rasch zum sicheren und jämmerlichen Untergang jedes einzelnen Soldaten der zurückweichenden Truppen hätte führen können.

In der Stunde vor dem Mittag, unter einem bleichen, vom Rauch der brennenden Vorstädte bleiernen Himmel, erreichten die letzten Einheiten Gaunts und Kaldenbachs die Verteidigungslinie in Gildenhang und wurden von der wartenden zweiten Front aufgenommen. Im Norden und ihnen dicht auf den Fersen wogten die monströsen Regimenter des Erzfeindes durch die verlassenen Vorstädte, um mit dem konzentrierten Angriff auf Gildenhang zu beginnen.

Die zweite Phase der Schlacht um die Civitas Beati hatte begonnen.

Granaten und Raketen gingen jetzt auf die Innenstadt nieder und trafen auch die Makropoltürme. Die Explosionen in den ausgedehnten Fassaden der hochaufragenden Türme mochten wie Zündfunken auf den Hängen von Bergen aussehen, aber der Schaden summierte sich. Schwerere Artillerie war aus den Obsidaes in Stellungen innerhalb der eroberten Nordstadt vorgerückt. Die Luftwaffe des Feindes konzentrierte ihre Angriffe jetzt ebenfalls auf die Türme. Luftabwehrbatterien auf den Dächern und obersten Etagen aller vier Makropoltürme, die meisten davon in aller Eile in den vergangenen Tagen in Stellung gebracht, leisteten schroffen Widerstand. Von Gildenhang aus betrachtet war es ein intensives Schauspiel, auch wenn gelegentlich Rauch die Sicht versperrte: Die angreifenden Flugzeuge rasten wie Fliegen durch ein Gewirr aus Bahnen von Leuchtspurgeschossen und Laserstrahlen, und manchmal erblühten Explosionen am Himmel.

Auch andere Geräusche hallten durch die Stadt. Grässliche Geräusche. Schändliche Lesungen von Warptexten überfluteten die Kom-Frequenzen oder dröhnten mit großer Lautstärke aus den Lautsprechern der vorrückenden Panzer.

Der gefallene Gebetsverstärker Gorgonaut wurde wieder aufgestellt und auf die Makropoltürme gerichtet. Durch ihn wurden Obszönitäten verkündet, oft die verstärkten Schreie imperialer Soldaten, Bürger oder Pilger, die in der ersten Phase in Gefangenschaft geraten waren. Der akustische Ansturm beunruhigte die ohnehin müden und erschütterten Verteidiger noch mehr. Die Kommissare der Leibkompanie – vor allem die Keetle-Zwillinge – waren ständig damit beschäftigt, jene Soldaten – durch Exekution – zu bestrafen, die ihren Kampfesmut unter der psychologischen Folter verloren.

Denn es wurde schwer zu denken. Es wurde schwer, am Leben bleiben zu wollen. Zwar waren die Auswirkungen des Lärmbombardements noch nicht vollständig ins Innere der Makropole vorgedrungen, aber bis zum frühen Nachmittag war all jenen in Gildenhang und in der Innenstadt, darunter auch die Mehrzahl der Verteidiger, übel und heiß. Nerven lagen blank, und die Männer bekamen Sodbrennen. Dennoch mussten sie weiterkämpfen. Die Todesbrigaden griffen Gildenhang von Nordosten und Nordwesten an. Hinter den Barrikaden und Verteidigungslinien kämpften und starben imperiale Soldaten mit Tränen in den Augen, da ihnen der zischende, plappernde Lärm des personifizierten Bösen körperliche Schmerzen bereitete.

 

Soric hatte aufgehört, die blauen Zettel aus dem Nachrichtenzylinder zu lesen. Die Schrift war zunehmend zittriger und hektischer geworden, und was er noch lesen konnte, waren praktisch nur Beleidigungen. Er war ein schwacher Dummkopf. Er war ein Feigling. Er war verdammter Abschaum. Der Autor, wer es auch war, welcher Teil von ihm es sein mochte, wurde zunehmend verzweifelt und wirr.

Er ließ seinen Trupp fünfzehn Minuten zwischen Artillerieangriffen ausruhen und saß für sich allein in einem Hauseingang, wo er zusammengekauert und mit zuckenden Händen ein Lho-Stäbchen rauchte. Er hatte einen Gallegeschmack im Mund, der nicht verschwinden wollte, und sein Auge tränte beständig. Er hielt nach Hark Ausschau. Hark wusste Bescheid.

Soric war sein Leben lang ein tapferer Mann gewesen. Trotz aller Übelkeit und Furcht, die er jetzt empfand, wusste er doch, jetzt mehr denn je, dass Milo recht hatte. Soric musste jetzt nur tapfer genug sein, es auf die richtige Art zu tun.

Wenn es nicht schon zu spät war.

»Mohr!«, rief Soric, während er sich erhob und den Stummel austrat. Der Signalmann seiner Einheit kam eiligst angelaufen.

»Machen Sie Gaunt für mich ausfindig, bitte.«

Mohr nickte, stellte das Kom-Gerät ab und fing an zu sprechen, während er an den Knöpfen drehte.

»Ist unterwegs zum Feldposten auf der Tarifstraße, Chef.«

Soric warf einen Blick auf seine Karte. Die Tarifstraße war ganz in der Nähe.

»Er ist zu Kommissar Hark gerufen worden, Chef«, fügte Mohr hinzu.

Sorics Miene verdunkelte sich. Zu spät, zu spät, zu spät …

»Vivvo!«, rief er.

»Chef?«

»Sie haben bis auf Weiteres das Kommando über den Trupp, mein Junge. Befolgen Sie die Befehle, und machen Sie das Beste daraus.«

»Chef? Wohin gehen Sie? Chef?«

Doch Soric hatte sich schon auf den Weg gemacht.

 

Leichter grauer Qualm von den Panzergranaten trieb durch die schmale Straße in Gildenhang. Schmucke Lagerhäuser der Gilde standen beiderseits des kopfsteingepflasterten Wegs, und im Süden, ein Stück den sanften Anstieg hinauf, erhoben sich die kolossalen Massen der Makropoltürme hoch über die Dächer.

Es gab wenig, überlegte Varl, was diese spezielle Straße von derjenigen unmittelbar nördlich oder südlich davon unterschied. Sie gehörten alle zum Innenstadt-Labyrinth, wurden alle von Granaten beschossen und waren alle vollkommen verräuchert.

Diese Straße markierte jedoch die zweite Linie, den Verteidigungsring um die Stadtmitte, zu dem sich alle Imperiumstruppen zurückgezogen hatten. Vor allem aber war diese Straße der Bereich der zweiten Linie, den sein Trupp halten sollte. Ein Block weiter westlich stand eine Kompanie PS-Infanterie. Ein Block weiter östlich, das wusste Varl aus berufenem Munde – nun ja, zumindest von Tak-Log –, stand ein Quartett Panzer der Leibkompanie. Er hatte sie noch nicht gesehen, vertraute aber auf ihre Anwesenheit.

Seit dem Mittag war es ruhig in seiner unmittelbaren Umgebung, bis auf die dröhnende Qual der Sendungen des Erzfeinds und den Vorstoß einer Todesbrigade des Blutpakts, den seine Männer mit einem ausgezeichnet vorgetragenen Flankenangriff abgewehrt hatten.

Varl schaute angestrengt die Straße entlang, wo die Männer von Trupp neun alle in Deckung waren und warteten. Er sah Baen, den Späher seines Trupps, von einem Erkundungsausflug zur Kreuzung zurückkehren.

Pater Sünde und seine beiden Schützlinge marschierten direkt hinter Baen.

Varl zog ein Lho-Stäbchen aus der Jackentasche und hielt es Brostin hin, der neben ihm in Deckung lag. Brostin sengte gehorsam die Spitze des Stäbchens seines Sergeants mit der blauen Zündflamme seines Flammenwerfers an.

Varl nahm einen tiefen Zug, atmete den Rauch aus und nickte Baen zu, als dieser näher kam. Der Pater und die beiden Psioniker klebten buchstäblich an Baen Fersen.

»Irgendwas zu melden?«, fragte Varl.

Baen schüttelte den Kopf. »Nichts, keine Spur. Ich habe auf der Kreuzung nachgesehen und auch noch dahinter. Sie beschießen die Katzstraße, was das Zeug hält. Die armen Schweine von den PS. Aber sonst gibt es nichts außer …«

»Außer?«

Baen zuckte die Achseln. Sünde legte seine gewaltigen Hände fest auf die Schultern seiner beiden Zwerge und trieb sie vorwärts. Alle drei gingen zwischen Varl und Baen durch.

»Ich hatte so ein komisches Gefühl, als würden wir beobachtet«, sagte Baen.

Varl lächelte. »Das ist nichts. Nur Anspannung. Das spüren wir alle mal.«

Sünde blieb stehen und behielt seine Psioniker nah bei sich, als er dann wieder zurückging und Varl eingehend betrachtete. Er erkannte die Uniform dieses Mannes wieder. Tanither. Diese Männer waren Geister. Diejenigen, die ihm seinen Sieg auf Hagia gestohlen hatten. Dort war er dem Sieg so nah gewesen und dann am Ende doch nur dank einer Warnung seiner Psioniker knapp mit dem Leben davongekommen. Nur wenige seiner Art hatten Hagia lebend entfliehen können.

Groll und Rachegelüste schwelten in ihm. Sünde fletschte die implantierten Stahlzähne. Das waren die Elenden, die ihm getrotzt hatten. Dieser hier war seinen Rangabzeichen nach ein Sergeant, schlampig, lässig, durch eine künstliche Schulter entstellt. Ein wertloser kleiner Wurm, der …

In diesem Augenblick hätte Sünde seinen psionischen Schutzmantel beinahe abgelegt, um sichtbar zu werden. Er konnte sie alle töten, abschlachten, ihre eigenen Waffen gegen sie richten.

Doch Geduld und Hingabe zu seiner beschworenen Pflicht ließen ihn die Ruhe bewahren. Er hatte seine Kinder bereits überanstrengt und brauchte sie für die bevorstehende Arbeit frisch und ausgeruht. Sie waren müde, und dadurch waren sie schwerer zu beherrschen. Eines der beiden bestand darauf, ständig mit der Hand zu winken. Maskieren war leichter als Aufstacheln, andernfalls hätte er diese Straße in ein Schlachthaus verwandelt.

Außerdem würde seine Rache an den Tanithern vollkommen sein, wenn er seine Arbeit beendete. Diese Männer würden bald alle tot sein. Noch besser, sie würden bar jeder Hoffnung und jeden Glaubens sterben.

Er führte seine Kinder weg, die ansteigende Straße empor. Sie marschierten noch drei Blocks weit, wobei sie die imperialen Verteidiger ignorierten, und wandten sich dann direkt nach Süden. Sünde legte seinen beiden Psionikern je eine Hand flach auf den Kopf. Sie zuckten beide zusammen und murmelten etwas.

Sünde spürte umher. Er war jetzt nah genug.

Er ging mit den beiden von der Straße in einen überdachten Markt. Die Geschäfte waren alle abgeschlossen und verbarrikadiert, und teilweise waren hölzerne Abschirmungen errichtet worden, um das Glasdach zu schützen.

Er führte die Zwerge zu einem der gefliesten Gehwege innerhalb des Marktbereichs und kauerte sich dann hinter den Stand eines Knopfmachers.

Sünde beruhigte sie mit seinem leisen, lieblichen Seufzen und lullte sie durch die wiederholte Benutzung ihrer rituellen Kommandoworte in einen gelassenen Trancezustand.

Beide wurden starr. Sogar das Winken hörte auf.

»Seht euch um«, flüsterte er. »Sucht das Werkzeug …«

Seine tätowierte Haut errötete und kribbelte, als er es in ihrem albtraumhaften Verstand kochen und brodeln spürte. Das leise Summen begann. Langsam, Straße für Straße, machten sie sich auf die Jagd.

Auf die Jagd nach dem Makelbehafteten. Dem Gefährlichen. Dem Geeigneten.

Da war einer. Nein, zu stark.

Da! Noch einer, schwächer … aber nein. Verwundet.

Noch einer … und er zuckte zurück, zu zerbrechlich, um geprägt zu werden.

»Mehr, mehr …«, beruhigte er.

Da …

 

Rawne blinzelte. Er hielt sich die Hand vor den Mund, hustete, und als er die Hand wieder wegnahm, waren blutige Sprenkel auf der Innenseite.

»Alles in Ordnung?«, fragte Banda.

Rawne antwortete nicht. Er setzte sich zum Ausgang in Bewegung, der vom Hab auf die Straße führte.

»Major?«, rief Banda, eindringlicher.

»Major Rawne?«, sagte Caffran, der seine Deckung neben einem gesplitterten Fenster verließ und seinem Truppführer hinterherlief.

»Weitermachen, Soldat«, sagte Rawne scharf und hustete noch einmal.

Draußen schlugen Panzergranaten der jüngsten Angriffswelle des Blutpakts in die nahen Manufakturen. Weiter die Straße entlang war das Knattern und Knistern eines Feuergefechts zu vernehmen.

Leyr, der Späher des Trupps, beobachtete geduckt die Tür und schaute bestürzt auf, als Rawne an ihm vorbeiging.

»Herr Major!«

»Gehen Sie mir aus dem Weg«, sagte Rawne.

»Herr Major!«, rief Leyr beharrlicher. »Sie sind in fünf Sekunden tot, wenn Sie den Kopf durch diese Tür str…«

Er streckte die Hand aus, um Rawne am Arm festzuhalten. Rawne fuhr herum. Blut tropfte aus seiner Nase. Seine Faust traf Leyr seitlich am Kopf und schleuderte den Späher zu Boden.

Feygor sprang über den am Boden liegenden Leyr und prallte gegen Rawne. Er riss den Major im Eingang zu Boden und stieß dabei die hölzerne Tür zu. Heftiges Feindfeuer schlug in die Tür und ihre nähere Umgebung, und die Luft war plötzlich von Holzsplittern und Staub erfüllt.

Rawne war auf den Rücken gefallen. Im Liegen landete er einen Tritt mit beiden Beinen, der Feygor quer durch den Raum beförderte, und sprang auf. Caffran kam von der Seite und versuchte es mit einem Faustschlag, den Rawne mit erhobenem Unterarm parierte. Caffran ließ eine harte Gerade folgen, die Rawne mit harter, offener Handfläche abfing, um Caffrans drittem Hieb seitlich auszuweichen und dem Soldaten einen Ellbogenstoß an den Hals zu versetzen.

Caffran fiel, nach Luft schnappend auf alle viere. Mittlerweile hatte sich Leyr aufgerappelt und zielte mit einem Haken auf Rawnes Kopf. Der Major packte das Handgelenk des Spähers und verdrehte es so heftig, dass es beinahe brach. Leyr schrie vor Schmerzen und fiel auf die Knie. Feygor verpasste Rawne einen Schlag mit ineinander verschränkten Fäusten zwischen die Schultern.

Rawne taumelte, und Blut spritzte aus seiner Nase. Er landete einen Seitwärtstritt, der Feygor gegen die Wand schleuderte, dann drehte er sich um und ging schwankend zur Tür.

Banda riss ihn zu Boden.

Sie wälzte Rawne unter sich herum und drückte ihm ihr ehrliches Silber in den Nacken. Verzweifelt starrte sie in sein Gesicht.

»Elim! Elim! Was zum Gak hast du vor?«

Er sah sie an und erschlaffte plötzlich, als seine blicklosen Augen sich wieder fokussierten.

»Feth …«, stammelte er.

Sie stieg von ihm herunter, hielt ihr Kampfmesser aber mit der Spitze auf ihn gerichtet. Rawne kam langsam wieder auf die Beine, während Caffran, Feygor und Leyr einen Kreis um ihn bildeten.

Rawne blinzelte sie alle an.

»Caff? Jessi? Murt? Was zum Feth habe ich gerade gemacht …?«

 

Nein! Zu stark. Zu halsstarrig. Zu sehr von anderen Seelen geliebt, die ihn verankerten und zurückzerrten.

Die Zwillinge waren aufgeregt. Sie fingen an zu heulen und zu wimmern, und aus ihren geöffneten Mündern drang das Summen.

»Schschsch!«, beruhigte Sünde sie. »Es wird einen anderen geben. Sucht ihn. Sucht das Werkzeug. Greift zu.«

Sie beruhigten sich und schickten ihren Geist wieder auf Wanderschaft.

Da war einer … nein, zu aufgeregt.

Noch einer … sinnlos, weil der Blutpakt ihn gleich töten würde.

»Sucht einen, sucht einen … sucht den, der gehorchen wird, und prägt ihn. Brandmarkt ihn mit dem Vorsatz. Macht ihn zu unserem Werkzeug …«

Der suchende Verstand der Zwillinge kam mit jähem Ruck zur Ruhe. Sünde glaubte schon, er müsse noch einmal von vorne anfangen, doch dann ging ihm auf, dass sie anhielten, weil sie genau das gefunden hatten, was sie suchten.

Ohne jeden Zweifel.

Pater Sünde lächelte. Durch seine empathische Verbindung mit den Zwergen konnte er den Verstand des auserwählten Instruments kosten. Er war köstlich. Perfekt.

»Brandmarkt ihn!«, zischte er, und das Prägen begann.

 

Brin Milo blinzelte. Er hatte Kopfschmerzen und war noch nie so erschöpft gewesen.

»Sie müssen schlafen«, sagte sie.

Milo blickte auf. Er wusste nicht, ob es ein Befehl oder eine Diagnose war. Bei ihr konnte er das nicht unterscheiden.

»Ich bin müde«, sagte er.

Sabbat lächelte. »Wir sind alle müde, Milo. Aber jetzt dauert es nicht mehr lange. Das Schicksal hat seine Entscheidung getroffen. Sie steht bevor.«

Er fragte sich, ob sie damit den überwältigenden Angriff meinte, den ihre Stellungen entlang der zweiten Verteidigungslinie gerade über sich ergehen lassen mussten, aber aus irgendeinem Grund blickte sie zum Himmel.

Milo war mit Staub bedeckt und hatte an einem Dutzend Stellen Splitterwunden davongetragen. Den meisten Geistern aus Domors Trupp, die sie begleiteten, ging es ebenso. Die Beati war vollkommen unversehrt. Ihre blasse Haut und die goldene Rüstung sahen eher sauberer und strahlender aus denn je.

»Wie wird es enden?«, fragte er.

»Wie das Schicksal es will«, erwiderte sie.

»Sie scheinen dem Schicksal zu vertrauen«, sagte er. »Ich dachte, Sie würden auf den Gott-Imperator vertrauen.«

»Wenn es ein Gesetz, eine Gerechtigkeit in diesem Kosmos gibt, Milo, dann sind beide ein und dasselbe. Ich habe meinen Weg gefunden, und der Weg steht fest.«

Granaten schlugen in das Gebäude westlich von ihnen, und den Granaten folgten Mörsereinschläge. Milo hörte, wie Domor seinem Trupp zurief, sich zurückfallen zu lassen. Milo stand auf und folgte ihnen mit der Beati.

Überall in der gerühmten zweiten Linie traten Imperiale jetzt den Rückzug an. Noch vor Einbruch der Nacht würde es überall in Gildenhang bis zu den Makropoltürmen Straßenkämpfe geben. Sie waren auf der Verliererstraße.

Sie kämpften gut und tapfer, verloren aber dennoch.

Milo und Sabbat gingen in Deckung, als sie das Scheppern vorrückender Feindpanzer und das Knirschen berstender Mauern unter deren Ketten hörten.

»Ich kannte mal jemanden, der das auch gesagt hat«, sagte Milo.

»Der was gesagt hat?«, fragte sie, während sie sich den Staub von der Schwertklinge wischte.

»Dass sie ihren Weg suchen würde. Dass sie ihren Weg gefunden hätte.«

»Und hatte sie?«

»Das weiß ich nicht. Sie sagte, sie glaubte, ihr Weg wäre der Krieg … aber ich habe ihr nicht geglaubt.«

Sabbat runzelte die Stirn. »Warum? Hat sie nicht die Wahrheit gesagt?«

Milo lachte und schüttelte den Kopf. »Nichts dergleichen. Ich weiß nur nicht, ob ihr klar war, was Krieg bedeutet.«

»Wie hieß sie?«

»Sanian. Sie hieß Sanian. Ich habe sie auf Hagia kennengelernt. Da haben wir Ihren …«

»Ich weiß, was ihr auf Hagia gemacht habt, Milo.«

Milo zuckte die Achseln. »Ich glaube, ich war in sie verliebt. Sie war sehr stark. Sehr schön. Ich wäre bei ihr geblieben, wenn ich gekonnt hätte.«

»Was hat Sie abgehalten?«, fragte die Beati. Sie drehte sich um und bedeutete Domors Kaliber-50-Geschützmannschaft zu einem Punkt, von wo sie die vorstoßenden Todesbrigaden unter Beschuss nehmen konnten.

»Pflichtgefühl?«, mutmaßte Milo.

»Der Lohn der Pflicht ist ihre Erfüllung«, sagte sie.

»So sagt man«, erwiderte er.

»Wer bin ich?«, fragte sie, während sie sich zu ihm herabbeugte.

»Sie sind Sabbat. Sie sind die Beati«, antwortete er.

Sie nickte. »Er wird bald kommen.«

»Wer?«

»Der Grund, warum ich hier bin und nicht woanders. Der Grund, warum wir alle hier sind.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Das werden Sie noch«, sagte sie. Eine Granate schlug nicht weit von ihnen ein und ließ eine Mauer zehn Schritte von ihrer Deckung entfernt einstürzen. Milo ächzte.

»Sind Sie verletzt?«, fragte sie.

»Mein Kopf. Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen.«

Die Beati nickte. Sie kroch wieder in die Deckung zurück und rief Domor.

»Shoggy!« Sie war entzückt darüber, wie er über das ganze Gesicht strahlte, als er seinen Spitznamen aus ihrem Mund hörte.

»Ziehen Sie die Männer zur Saenzkreuzung zurück. Da sollen sie sich eingraben. Panzerunterstützung ist unterwegs.«

»Woher wissen Sie das, Heiligkeit?«, rief Domor zurück. »Das Kom ist ausgefallen!«

»Vertrauen Sie mir«, sagte sie. »Tun Sie’s. Es wird nicht mehr lange dauern.«

 

Ohne die Granaten und das Kreuzfeuer ringsumher zur Kenntnis zu nehmen – oder vielleicht auch dagegen gefeit –, führte sie Milo durch die verwüsteten Straßen zu einer kleinen Civitas-Kapelle, die infolge der jüngsten Bemühungen des Erzfeindes kein Dach mehr hatte. Die Kapelle war Faltornus gewidmet.

Die geborstenen Dachbalken rauchten, und der Boden war mit Schutt und zertrümmerten Bankreihen übersät. Sie führte ihn durch die Trümmer, bis sie vor dem Adleraltar standen. Milos Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Er hörte, wie nah bei der Front sie waren. Warum hatte sie ihn hergeführt? Sie war so vital, so wertvoll. Sie ging so ein Risiko ein. Das war verrückt …

Mit sanften Händen drehte sie sein Gesicht zum Altar und legte ihm die mittleren drei Finger der rechten Hand auf die Stirn.

In einer Sekunde, einer einzigen, wunderbaren Sekunde eiskalter Klarheit waren seine Kopfschmerzen verschwunden, und er sah alles.

Alles.

»Jetzt weißt du alles. Wirst du mir beistehen?«

»Das hätte ich ohnehin getan.«

»Ich weiß. Aber ich meine es ernst. Gaunt versteht es nicht. Wirst du mir beistehen, auch im Angesicht seines Missvergnügens? Ich weiß, dass du ihn wie einen Vater liebst.«

»Das hier ist zu wichtig, Sabbat. Ich werde dir beistehen. Und Gaunt wird es verstehen.«

Sabbat nickte. Ein goldener Schein schien ihre Augen von innen heraus zu erfüllen. »Lass uns …«

»Ich finde, wir sollten zuerst unsere Verehrung bezeugen«, sagte Milo. »Ich meine, dieses Unternehmen ist so gefährlich, dass wir zum Gott-Imperator beten sollten … zum Schicksal … solange wir noch Gelegenheit dazu haben.«

»Du hast recht. Du bist hier, um mich daran zu erinnern, dass solche Dinge richtig sind«, sagte sie. Sie sanken vor dem Altar auf die Knie.

 

Saul schnalzte verärgert mit der Zunge. Das Fadenkreuz seines Zielfernrohrs blinkte plötzlich auf leerem Raum. Noch eine Sekunde zuvor hatte er einen beinahe perfekten Schuss gehabt. Durch das eingeschlagene Spitzbogenfenster in die Faltornus-Kapelle, fünfhundert Meter, vernachlässigbarer Seitenwind … keine Anpassung, die er nicht vornehmen konnte.

Eine Zeit lang hatte sie dieser Junge abgeschirmt, dieser Gardist, der immer in der Schusslinie stand. Saul war zuversichtlich, dass die Schüsse aus seinem Magazin den Leib des Jungen durchschlagen und auch die Beati töten konnten, aber er wollte das Risiko nicht eingehen. Und er wollte auch die damit verbundene Unreinheit nicht. Er wollte einen sauberen Kopfschuss. Die Beati. Im Fadenkreuz. Wie der Magister es gewollt haben würde. Ein Schuss.

Aber der verdammte Junge wollte nicht aus dem Weg gehen. Erst in der letzten Minute, als er plötzlich unterhalb der Schwelle der geborstenen Fensterbank verschwunden war. Wahrscheinlich hatte er sich hingekniet.

Einen kurzen Moment war die Beati exponiert, ein klarer Schuss durch die Fensteröffnung.

Dann sank sie ebenfalls außer Sicht. Was machten sie da? Beten, nahm er an. Als würde ihnen das jetzt noch etwas nützen.

Saul zog den Lauf seines Präzisionsgewehrs aus der Lücke. Der Hab, in dem er sich befand, war fast einen Kilometer lang und erstreckte sich über sechs Querstraßen in Gildenhang, und darin gab es überall Fenster. Er konnte mühelos die Stellung wechseln und sie auf dem Rückweg erwischen.

Saul packte seine Sachen zusammen und stutzte dann. Er verspürte plötzlich dieses Kribbeln, das nur ein Scharfschütze spürt. Er duckte sich.

 

Etwas mehr als sechshundert Meter weiter seufzte Hlaine Larkin und löste seine Schusshaltung auf. Er hätte schwören können, hinter diesem Hab-Fenster etwas gesehen zu haben. Einen lauernden Schützen. Jetzt war er verschwunden.

Er glitt lautlos zur Seite und schaltete sein Helmkom ein.

»Hast du ihn gesehen?«

Eine kurze Pause. »Nein.«

»Sie soll weitersuchen«, sagte Larkin. »Er ist da. Das kann ich beschwören.«

 

Saul machte es sich vor einem Fenster fünf Bögen weiter gemütlich und nahm das Zielfernrohr von seinem Gewehr. Er lugte umher, indem er es freihändig benutzte wie einen Feldstecher. Da war die Kapelle. Immer noch keine Bewegung.

Er wartete. Wie lange dauert ein Gebet?

Er konnte dieses Gefühl nicht abschütteln, dieses Kribbeln vom sechsten Sinn.

Um ganz sicherzugehen, wechselte er zum nächsten Fenster.

Er spähte wieder mit seinem Zielfernrohr. Diesmal sah er eine Bewegung. Eine kurze Andeutung von Köpfen.

Er ließ das Zielfernrohr wieder in die Halterung an seinem Gewehr einrasten, wälzte sich zur Ecke des Fensters und legte an.

Nachdem sie ihr Gebet beendet hatten, erhoben sich Milo und Sabbat und waren wieder zu sehen. Er sah, wie sie ihm zunickte und etwas sagte. Saul hatte seinen Schuss. Sauber … nein, der Junge war schon wieder im Weg. Wenn er sich etwas weiter nach draußen lehnte …

 

Da war er! Larkin spannte sich und ließ sich gleich darauf wieder zurücksinken. Er sah Bewegung in dem Hab-Fenster, aber ein Schornstein war direkt in der Schusslinie.

»Hast du ihn? Sag mir, dass du ihn hast!«, knurrte er in sein Sprechgerät.

 

Sauls unversehrter Finger krümmte sich langsam um den Abzug. Er hörte ein Knister-Zischen, ein entferntes Echo, und einen herrlichen Moment lang glaubte Saul, er habe geschossen.

Aber der Zähler an seinem Lasergewehr zeigte nichts an.

Von einem Hochenergieschuss zur Explosion gebracht, löste sich Sauls Kopf vollständig vom Körper. Sein am Hals rauchender Leichnam fiel zurück in das Hab. Das Präzisionsgewehr entfiel seinen Händen, ohne einen Schuss abgegeben zu haben.

»Sie hat ihn erwischt, Larks!«, sendete Jajjo freudig.

Die im Schutz des Schlafsaalfensters neben ihm kniende Nessa Bourah hob ihr rauchendes Präzisionsgewehr und grinste.

 

Die in der Stellung in der Tarifstraße zirkulierende Luft war klamm und stank nach Chemikalien. Ein Strom aus Lastern, die von zivilen Freiwilligen gefahren wurden, fuhr auf den Hof und brachte die transportfähigen Verwundeten zu den Lazaretten in den Makropoltürmen. Gaunt bahnte sich einen Weg durch die Reihen der Verwundeten. Geschrei, Stöhnen und hektische Stimmen drangen von allen Seiten auf ihn ein.

»Wo ist Dorden?«, brüllte Gaunt.

Foskin, dessen Kittel mit Blut bespritzt war, schaute von einem wild um sich schlagenden Soldaten der Leibkompanie auf einer Bahre auf und zeigte in eine Richtung.

»Doktor?«

Dorden tauchte hinter einem improvisierten Schirm auf – an den Türrahmen genagelte Plastikplane. Er war ebenfalls blutverschmiert, und sein Gesicht war vor Erschöpfung eingefallen.

»Ich bin hier«, sagte er.

Mehrere Sanitäter hoben Hark auf einen Rollwagen, um ihn in die Türme zu evakuieren. Gaunt konnte den Kommissar unter der Plastikhaube des künstlichen Beatmungsgeräts und den sterilen Verbänden um seine linke Seite kaum erkennen. Dicke intravenöse Tropfe und andere Röhren schlängelten sich aus seinem Körper und endeten in Plastikbehältern mit Flüssigkeiten, die alle an einer Halterung über dem Kopfende der Bahre hingen, in einer Hämopumpe und der Beatmungseinheit.

»Feth …«, sagte Gaunt. Er warf einen Blick auf Dorden, »Massive Verletzungen auf der linken Körperhälfte. Er hat den Arm verloren, das linke Auge, das Ohr und eine Menge Knochenmasse und Gewebe. Grells Jungens haben ihn gefunden und hergebracht. Da war er beinahe verblutet.«

»Wird er durchkommen?«

Der Boden bebte.

»Wird irgendeiner von uns durchkommen?«, fragte Dorden düster.

»Sie wissen, was ich meine!«

Dorden seufzte. »Er ist stark. Entschlossen. Er könnte es schaffen. Wir bringen ihn auf die Intensivstation. Ibram …«

»Was?«

»Als Grell ihn gefunden hat, war Hark von den Leichen Mkendricks und seines gesamten Trupps umgeben.«

»Alle … alle tot?«

»Ja. Grell hat gesagt, es hätte ausgesehen wie in einem Schlachthaus. Jemand hat sich wirklich alle Mühe gegeben, sie gründlich fertigzumachen.«

»Der Blutpakt ist …«

Dorden schüttelte den Kopf und hob ein kleines chirurgisches Gerät aus rostfreiem Stahl auf. Er hielt es Gaunt hin. Mehrere blutverschmierte Gegenstände lagen darauf. Gaunt streckte neugierig die Hand aus, um sich einen anzusehen.

»Tun Sie das lieber nicht«, sagte Dorden. »Wenn Sie sich nicht die Fingerspitzen abschneiden wollen.«

»Ist es das, wofür ich es halte?«

Dorden nickte. »Klingensplitter aus einem Flechettewerfer der Loxatl. Ich habe sie aus Harks Schulter geholt.«

»Gott-Imperator, sie werfen uns alles entgegen, was sie haben.«

»Das ist der einzige Bericht über typische Loxatl-Wunden, aber ich dachte, Sie sollten Bescheid wissen.«

»Danke«, sagte Gaunt. »Ich muss wieder raus.«

»Ich will, dass Sie sich noch jemanden ansehen«, sagte Dorden.

Der abgeteilte Raum war für die schwersten Fälle reserviert, darunter auch jene, die Dorden nicht transportieren wollte. Der Doktor führte Gaunt zu einem Bett in der Ecke, wo ein tanithischer Soldat an das komplette Lebenserhaltungssystem angeschlossen war. Es war Costin, der Trinker, dessen Achtlosigkeit Raglons Trupp auf Aexe so teuer zu stehen gekommen war.

»Haben Sie gehört, was Raglons Trupp heute Nachmittag geleistet hat?«, fragte Dorden.

Gaunt nickte. Er war stolz auf sie. Sie hatten für dringend nötigen Feuerschutz gesorgt, als Daur nicht durchgekommen war, und mit dieser Aktion über siebzig Männer gerettet.

»Raglon hat Costin gebracht. Bauchschuss im Kampf. Wird den Tag vermutlich nicht überstehen. Aber Raglon wollte, dass er besondere Pflege bekommt. Die Aktion war Costins Werk. Raglon hat es mir selbst erzählt. Raglon selbst war festgenagelt, also hat Costin die Spitze übernommen und den Trupp hingeführt. Hat für den Feuerschutz gesorgt und diese ganzen Leute rausgeholt. Raglon will vorschlagen, ihn für Tapferkeit auszuzeichnen.«

Gaunt sah Dorden an. Die Erschöpfung hatte den Arzt seiner üblichen Subtilität beraubt.

»Wenn es also nach mir gegangen wäre und ich Costin auf Aexe hingerichtet hätte, wären all diese Leben verwirkt gewesen. Sie wollen sagen, dass ich Ihnen danken sollte …«

»Seien Sie kein Arschloch, Gaunt!«, fauchte Dorden und wandte sich ab. »Ich habe Ihnen nur erzählt, wie es war.«

»Sie haben recht«, sagte Gaunt. Dorden blieb stehen. »Ich bin Kommissar, und Sie sind Arzt. Es wird immer Zeiten geben, in denen sich unsere vordringlichsten Pflichten widersprechen … auf schlimmste Art widersprechen. Harte Disziplin und selbstlose Fürsorge haben keine sonderlich große Schnittmenge. Ich würde sagen, das ist ein Problem, mit dem zwei Freunde auf unterschiedlichen Seiten dieser Trennlinie leben müssen.«

»Das ist es wohl.«

»Aber hier und jetzt … es tut mir Leid. Sie hatten recht.«

Dorden schaute verlegen weg. »Schön. Müssen Sie nicht noch einen Krieg gewinnen oder irgendwas?«

Gaunt ging durch den Schirm nach draußen und stand plötzlich Soric gegenüber.

»Chef? Was machen Sie denn hier?«

Sorics Miene verriet Entschlossenheit. »Es tut mir Leid, Herr Kommissar. Ich hoffe, Sie werden mir glauben, wenn ich sage, dass ich es nicht böse gemeint habe. Ich war immer loyal, trotz allem, was er Ihnen vielleicht erzählt hat.«

»Wer? Worum geht es überhaupt?«

»Tun Sie mir nur einen Gefallen, Herr Kommissar. Hören Sie mich an, und machen Sie es dann rasch.«

»Was soll ich rasch machen, Agun?«

»Meine Hinrichtung, Herr Kommissar.«

»Soric? Wovon reden Sie eigentlich?«

»Ich weiß, dass Hark Ihnen alles erzählt hat, Herr Kommissar. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich deswegen nicht schon früher zu Ihnen gekommen bin.«

Der Plastikschirm hinter Gaunt wurde zurückgezogen, und drei Sanitäter kamen heraus, die Harks Rollbahre zur Rampe fuhren.

Sorics Augen weiteten sich, als er sah, wer da weggefahren wurde.

»Ich bin hier, weil Hark schwer verwundet wurde, Soric. Er war gar nicht in der Lage, mir irgendwas zu erzählen. Also … warum tun Sie es nicht?«

Soric streckte sich und nahm schwerfällig Haltung an. »Herr Kommissar-Oberst. Es ist meine Pflicht und meine Schande, hier vor Ihnen zuzugeben, dass ich … vom Warp gezeichnet bin. Er steckt seit Phantine in mir, und ich habe es schon zu lange verheimlicht. Der Fluch des Psionikers korrumpiert meinen Verstand. Ich habe Botschaften bekommen, Herr Kommissar. Ratschläge, Warnungen. Alle haben sich als wahr erwiesen. Es tut mir Leid, Herr Kommissar.«

»Ist das ein Scherz, Soric?«

»Nein, Herr Kommissar. Ich wünschte, es wäre einer.«

Gaunt war wie benommen. »Ihnen ist klar, dass ich es nicht darauf ankommen lassen darf, Sergeant? Ich habe keine Wahl. Wenn Sie die Wahrheit sagen … wenn Sie vom Warp gezeichnet sind, muss ich …«

»Ich weiß, Herr Kommissar.«

»Was wollen Sie tun, Gaunt? Ihn erschießen?« Dorden stand hinter Gaunt. Er hatte den Wortwechsel mit angehört.

»Ich glaube, dass nicht einmal selbstlose Ärzte ein Risiko eingehen, wenn es um den Warp geht, Doktor.«

»Das ist hier kein feindlicher Warp-Abschaum, Ibram«, sagte Dorden. »Es ist unser Agun Soric!«

»Kämpfen Sie nicht für mich, Doktor«, sagte Soric. »Bitte. Das ist nicht richtig. Sie wissen selbst, was in mir steckt. Damals, auf Phantine, mit Corbec. Ich weiß, dass es Ihnen Angst gemacht hat.«

Sowohl Gaunt als auch Dorden konnten sich noch gut an den Vorfall erinnern. Er hatte sie in der Tat erschüttert.

»Seitdem ist es schlimmer geworden. Viel schlimmer.« Soric schien sich innerlich zu erregen, als sei etwas Lebendiges in seiner Tasche, das an ihm nagte.

»Die normale Verfahrensweise wäre die, Sie auf der Stelle zu erschießen«, sagte Gaunt. »Aber wir reden hier von Ihnen, Agun, und ich habe noch nie gehört, dass sich eine Warp-Missgeburt selbst gestellt hat. Wachsoldaten?«

Drei Posten von den PS eilten herbei. »Nehmen Sie diesem Mann Waffen und Rangabzeichen ab und fesseln Sie ihn. Bringen Sie ihn in die Makropoltürme und sperren Sie ihn in die sicherste Zelle, die Sie haben. Sollte er irgendwas versuchen, erschießen Sie ihn. Und wenn Sie im Turm angekommen sind, lassen Sie die hiesigen Astropathicae der Gilde rufen, um ihn zu untersuchen.«

»Jawohl, Herr Kommissar.«

»Herr Kommissar, bitte. Bevor sie mich mitnehmen, muss ich Sie warnen.«

»Agun, gehen Sie. Bevor ich es mir anders überlege.«

»Herr Kommissar, bitte!« Die Soldaten packten Soric und legten ihm Handschellen an. »Bitte! Um unser aller Wohl! Er hat mir gesagt, dass neun unterwegs sind! Neun sind unterwegs! Sie werden sie töten, und ihr Blut wird an meinen Händen kleben! Bitte, Herr Kommissar! Im Namen von allem, was heilig ist! Bitte hören Sie auf mich!«

Von den Soldaten weggeschleift, verschwand Soric im Gang des geschäftigen Feldlazaretts.

»Hätten Sie ihm zuhören sollen?«, fragte Dorden.

Gaunt schüttelte den Kopf. »Entweder ist er unter dem Druck zerbrochen, und in dem Fall betrauere ich sein Dahinscheiden, denn er war ein verdammt guter Soldat. Oder … er ist vom Warp gezeichnet, wie er selbst sagt. Mir ist die erste Erklärung lieber. Aber wie auch immer, er hat nichts zu sagen, dem ich trauen könnte. Die Fantastereien eines Übergeschnappten oder die perversen Lügen des Warps.«

»Weil der Warp der Menschheit niemals die Wahrheit zeigt?«

»Nicht dem Ungeübten und dem Ungeduldeten. Nein.«

 

»Psionikertricks«, sagte Corbec. »So hört es sich für mich an.«

»Verdammte Psioniker«, stimmte Feygor zu.

»Irgendso ein Feth hatte meinen Verstand in der Gewalt. Ich war nicht mehr ich selbst. Ich …« Rawne brach ab.

»Was?«, fragte Corbec.

»Wenn ich es nicht abgeschüttelt hätte, Colm. Feth, ich wollte sie töten.«

»Wen, Banda?«

»Feth, nein! Sie. Die Beati.«

Feygor fluchte bildhaft. Wie immer klang es mit der monotonen Stimme seines künstlichen Kehlkopfes absonderlich.

»Irgendwas ist in Ihren Kopf eingedrungen und hat Sie beschließen lassen, die Heilige zu töten?«, fragte Caffran.

Rawne zuckte die Achseln. Er konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen. Wie sollten sie ihm dann je wieder – trauen?

Irgendwas war in seinen Kopf eingedrungen, das stimmte schon. Irgendwas, das so weich und stark und verführerisch war, dass er alles andere vergessen hatte. Jede Loyalität, jede Freundschaft, jeden Eid, den er je geschworen hatte, sogar seine erschreckend intensive Zuneigung zu Jessi Banda.

All das, vergessen. Geblieben war nur seine unbarmherzige Ader des Hasses. Sein Killer-Instinkt. Der Teil seines Charakters, der bewirkte, dass andere ewig auf der Hut vor ihm waren, der Teil seines Charakters, der dafür sorgte, dass Ibram Gaunt ihm nie völlig den Rücken zudrehte.

Der aller-allerschlimmste Teil in ihm. Er war angeschwollen und gewachsen und hatte Geist, Körper und Seele vollkommen übernommen. Für diesen kurzen Moment hätte er mit Freuden alles und jeden getötet.

Dann war es wieder verschwunden, aus ihm geströmt wie eine rasch abebbende Flut.

Ein furchtbarer Gedanke blieb. Wenn es ihm das angetan hatte, was mochte es dann mit anderen anstellen? Wenn es ihn verlassen hatte, wohin war es dann gegangen?

 

Milo blinzelte wieder, da er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Er war so verdammt müde. Die Wirkung der Berührung der Beati ließ nach, und die Kopfschmerzen kehrten langsam zurück. Stimmen schienen ihn zu rufen wie aus einem Traum, wie vom Rand des Schlafs.

»Alles in Ordnung mit dir, Brin?«, fragte Dremmond.

»Ja, sicher«, sagte Milo.

Trupp zwölf zog sich vorsichtig durch eine Gasse weit unten in Gildenhang zu den Makropoltürmen zurück. Die zweite Linie war weniger durchbrochen, sondern mehr zusammengedrückt worden. Granaten der in den Vororten massierten Feindbatterien sausten über ihre Köpfe hinweg.

Die Sonne ging unter, sie war bereits hinter den Dächern verschwunden. Bis zum Einbruch der Nacht würden sie in den Türmen sein, die Schleusen versiegeln und diese gewaltigen Bauwerke zum Schauplatz ihres letzten Gefechts machen.

Domor hob plötzlich eine Hand, und die Soldaten seines Trupps nahmen automatisch Deckung.

Alle außer der Beati. In strahlenden Glanz gehüllt, ging sie ganz offen weiter die Gasse entlang.

»Runter!«, zischte Milo.

»Gehen Sie in Deckung, Heiligkeit«, fügte Domor drängend hinzu.

Eine Todesbrigade stürmte die Straße. Sie kamen heulend und aus alle Rohren schießend angelaufen. Von den Häusermauern spritzten Steinsplitter in alle Richtungen.

Milo legte an und schoss. Sein Schuss fällte den nächsten eisenmaskierten Blutpakt-Soldaten. Die Männer rings um ihn fingen ebenfalls an zu schießen.

Sabbat wich keinen Fußbreit, und ihr wirbelndes Energieschwert lenkte alle auf sie gezielten Laserstrahlen ab. Sie entleibte die ersten beiden Feindsoldaten, die sie erreichten, und enthauptete den Nächsten.

»Auf sie! Auf sie! Ehrliches Silber!«, brüllte Domor, und der Trupp sprang geschlossen auf und ging rings um die Beati frontal auf den Feind los.

Milo hatte mittlerweile rasende Kopfschmerzen. Er stieß dem nächsten Blutpakt-Soldaten sein am Gewehrlauf befestigtes Kampfmesser ins Gesicht und drehte es mit kurzem Ruck wieder heraus.

Er sah sie. Sie sah so verletzlich aus. Nur ein Schuss. Ein einziger Schuss, und sie würde sterben. Er warf sich der feindlichen Flut entgegen.

 

Das letzte Tageslicht fiel streifenweise durch die teilweise durch Jalousien geschützten Glaswände des geschlossenen Marktes und blitzte auf Pater Sündes Stahlzähnen, während er seinen Zwillingen beruhigende Worte zuflüsterte. Sie hatten ihre Arbeit getan. Sie waren mit dem Werkzeug verbunden, und mit jedem verstreichenden Augenblick verankerten sie die Aufgabe tiefer und tiefer in seinem Verstand.

Die Zwillinge waren die mächtigsten Psioniker im gesamten Sektor. Alpha-Stufe. Ihrer beider Geist zusammengenommen hatte mehr Macht als alle Astropathen und Psioniker auf Herodor zusammen.

Seine Kinder. Die Kinder der Sünde.

 

Karess war jetzt untergetaucht, zehn Meter tief in Grundwasser, dessen Strömung stark an ihm zog. Blasen entwichenen Gases funkelten an den Säumen seiner Adamithülle und rings um die perforierten Verkleidungen seiner schweren Waffen. Seine Gehörgänge bebten unter dem Rauschen des Wasserdrucks.

Der felsige Boden des Grundwasserbeckens war weich, und Karess’ gewaltige Hufe wühlten Schlick und augenlose Schlammkreaturen, Bakterien und heißen Schaum auf.

Maschinenschmerz dröhnte durch seine Gestalt. Er überprüfte seine Orientierungssysteme.

Genau nach Süden, genau nach Süden. Dort würde er sich erheben und töten.

Tlfeh war tot. Die Kugel des Menschen hatte sich tief in ihn gebohrt und getötet. Chto, der das Brutkommando hatte, befahl Reghh, Tlfeh abzustoßen. Der kalte, stinkende Leichnam glitt zu Boden. Chto und Reghh stellten sich auf die Fersen und heulten trauernd den Himmel an. Für menschliche Ohren war kein Laut zu hören, nur ein tiefes, widerliches Pulsieren, das die Luft erzittern ließ.

Nass und glänzend wanden sich die beiden verbliebenen Loxatl umeinander und glitten weiter in die nächste Straße.

Ihre Harnischwaffen waren geladen. Wehe allen, die ihnen jetzt in die Quere kamen.

 

»Befehle, Herr Major!«, rief der Kom-Offizier. Major Landfreed rannte tief geduckt zu ihm. Durch den nicht weit entfernt niedergehenden Artilleriebeschuss war die Luft sehr schrapnellhaltig.

Die Befehle für die Elemente der Leibkompanie unter Landfreed lauteten, sich in die Altmakropole zurückfallen zu lassen.

Landfreed gab die Befehle an seine Männer weiter. Seit dem Mittag hatte er sechzig Männer an die Todesbrigaden des Blutpakts verloren. Er war entschlossen, dafür zu sorgen, dass die noch verbliebenen Männer am Leben blieben. Seine Männer rückten ab: zwei Trupps, geschlossene Formation.

Eine Granate landete genau auf der anderen Seite der Mauerruine, und die Explosion ließ den Boden erzittern. Dachziegel regneten von den Resten der Dachbalken herab. Landfreed warf sich zu Boden.

Als er wieder hochkam, war er von Rauch umgeben. Er konnte keinen seiner Männer sehen.

Blinzelnd und mit tränenden Augen schaute er sich um und sah sich plötzlich einer schwarz gewandeten Gestalt gegenüber, die aus dem Nichts auftauchte.

Landfreed erstarrte. Das Entsetzen lähmte seine Glieder und Reflexe. Er starrte in ein Gesicht, das nur zwanzig Zentimeter von seinem entfernt auftauchte.

Es war kahl und weiß und völlig haarlos. Tiefe Falten überzogen die Haut und bildeten Furchen um den lächelnden Mund und die dunklen Augen. Getrocknete bräunliche Rückstände besudelten die Augenhöhlen. Es war das Angesicht des Todes, der schwarze Mann, den zu fürchten Landfreed beigebracht worden war.

Der Spuk der Finsternis.

Skarwael zog die Spitze seines Bolines über Landfreeds Jacke und schnitt nacheinander jeden Knopf ab. Die silbernen Befestigungen fielen klirrend zu Boden und tanzten und rollten davon.

Skarwaels Boline hielt inne, als er Landfreeds nackte Kehle erreichte.

Skarwael lächelte. Das Lächeln vertiefte die Furchen. Raubtierzähne, weißer als das bleiche Fleisch, das sie einhüllte, wurden sichtbar.

Landfreed suchte tief in sich einen Schrei.

»Herr Major? Herr Major? Major Landfreed?« Einige seiner Männer – Sanchez, Grohowski, Landis, Boles – kamen auf der Suche nach ihm durch den stechenden Granatqualm gestolpert und blieben ob des sich ihnen bietenden Anblicks wie angewurzelt stehen.

Landis schrie auf und riss sein Lasergewehr hoch. Er wusste nicht genau, was dieses kadaverartige Ding in Schwarz war, aber sein Bauch verriet ihm genug.

Skarwael fuhr herum, und seine ledrigen schwarzen Gewänder raschelten und erzeugten kleine Wirbel in der staubhaltigen Luft. Landis’ Schüsse fegten durch den Staub, trafen aber nichts Festes.

Wie ein Schatten, der von einer sich bewegenden Lichtquelle plötzlich woandershin geworfen wurde, tauchte Skarwael hinter ihnen auf. Eine funkelnde Splitterpistole erschien unter seinem Umhang aus ungegerbter Menschenhaut und in seinen langen blassen Fingern. Energieaufgeladene Fasern aus giftigen Kristallen zuckten aus dem Lauf, und Grohowski krümmte sich, als sein Bauch explosionsartig aufgerissen wurde. Landis schoss wieder und verfehlte sein Ziel erneut.

»Bewegung! Bewegung!«, brüllte Landfreed, der endlich seine Stimme wiederfand. Und seine Laserpistole.

Er eröffnete das Feuer auf den monströsen Schatten, aber der war verschwunden. Mit einem verblüfften Gurgeln fiel Landis auf den Rücken, von den Schüssen seines eigenen Kommandeurs getötet.

Boles und Sanchez schossen gemeinsam und deckten die Ruinen der Ziegelmauer vor ihnen mit Dauerfeuer ein. Sie hatten den Schatten vor den Läufen, aber er bewegte sich wie ein schwarzes Flackern die Wand empor, an ihren Strahlen vorbei und in die Luft. Mitten im Flug drehte er sich, wobei der grässliche schwarze Umhang wie Schwingen hinter ihm wehten, und fiel auf Sanchez. Der Soldat der Leibkompanie wehrte sich, brüllte und fiel förmlich auseinander, da ihn der beinahe unsichtbare Schatten verstümmelte und dann beiseite warf.

Boles wich zurück und sah Landfreed an.

»Laufen Sie«, sagte Landfreed nur.

Boles lief. Hinter ihm stellte sich Landfreed dem Ungeheuer und riss den Arm hoch, um zu schießen.

Doch da war keine Pistole mehr. Keine Hand. Nur ein sauber abgetrennter Armstumpf.

Skarwael materialisierte vor Landfreed und spießte ihn auf seinem Boline auf.

Boles rannte durch den Rauch und die Trümmer. Er hörte, wie sein Kommandeur hinter ihm starb. Irgendwo in der hintersten Ecke seines verängstigten Verstandes fragte er sich eines. Was konnte einen Todesschrei so lange dauern lassen?

 

»Was ist faul?«, fragte Gaunt Beltayn, indem er den üblichen Kommentar seines Signal-Offiziers vorwegnahm.

»Wie wär’s mit … allem?«, erwiderte Beltayn.

Der erste Trupp hatte sich in der Digrestraße verschanzt, einer Geschäftsstraße am Prinzipal I in Gildenhang, wo sich Gaunt nach seinem Besuch im Lazarett seinem Trupp wieder angeschlossen hatte. Der Rückzug aus der zweiten Linie war ein Chaos verglichen mit demjenigen, den die Imperialen im Morgengrauen aus den nördlichen Vororten durchgeführt hatten. Sie hatten die zweite Linie nicht annähernd so lange gehalten, wie Gaunt gehofft hatte. Der Erzfeind pflügte tiefe Furchen durch Gildenhang und bedrohte bereits die agroponischen Kuppeln im Westen. Die Verteidiger sollten sich in die Makropoltürme zurückziehen, um dort ihre letzte Schlacht zu schlagen, ein taktisches Manöver, das Biagi und Lugo übersehen hatten. Landfreed war nicht mehr erreichbar, und seine Truppen waren versprengt. Kaldenbachs Rückzug wurde ebenfalls erheblich behindert – aus der Aufzeichnung seiner Kom-Gespräche ging hervor, dass er irgendwie mehrere seiner wichtigsten Unterführer verloren hatte, darunter auch Lamm vom Regiment Civitas. Sogar die Geister waren in Unordnung. Gaunt versuchte sich mit Corbec und Rawne abzustimmen, aber ihre Aktionen waren durch Zwischenfälle verzögert worden, über deren Natur die Gesprächsaufzeichnungen keinen Aufschluss gaben.

Der letzte Kontakt mit der Beati war ein Bericht über ein höllisches Feuergefecht in den tiefer gelegenen Bereichen Gildenhangs gewesen.

In der Digrestraße wurde es blutig. Der erste, vierte und zwanzigste Trupp lagen unter schwerem Beschuss. Der Erzfeind hatte eine Abteilung Selbstfahrlafetten an den Ausläufern Gildenhangs unterhalb ihrer Position in Stellung gebracht und deckte jetzt die ganze Gegend ein.

Leuchtend grün-gelbe Geysire aus Feuer explodierten aus den Gebäuden ringsumher, schleuderten Dachziegel und Gesteinstrümmer in die Luft und ließen flammende Rinnsale auf intakte Dächer niederregnen. Es roch nach verbranntem Ziegelstaub, so erdig und durchdringend, dass es die Nase verschloss.

Gaunt wusste, dass es jetzt darauf ankam. Sie hatten eine sehr geringe Hoffnung, den Rückzug noch zu bewerkstelligen. Wenn sie ihn vermasselten – und das Schicksal gegen sie war –, würden sie nicht einmal mehr lange genug leben, um noch einen letzten Widerstand in den Makropoltürmen zu organisieren. Wenn der Feind den Druck aufrechterhielt, würde die imperiale Verteidigung auf Herodor ausgelöscht sein, bevor sie die Türme auch nur erreichte.

Gaunt lief mit Beltayn über die brennende Straße und zu Mkoll und Ewler, die im Schutz einer halb eingestürzten Mauer kauerten.

»Wir müssen uns jetzt absetzen. Zu den Makropoltürmen.«

Mkoll nickte. »Es wird eng.«

»Ich wünschte, ich könnte Corbec und Rawne über Kom erreichen.«

»Zu starke Interferenzen«, sagte Mkoll. »Der Artilleriebeschuss für sich allein reicht schon, um die Signale zu verstümmeln.«

»Wenn ich hier eine Verteidigungslinie bilde, können Sie damit anfangen, die Männer nach Süden zu evakuieren?«, fragte Gaunt.

Ewler nickte. Mkoll zuckte die Achseln. »Wir müssen auf Scharfschützen achten.«

»So tief innerhalb der Stadt?«

Mkoll sah seinen Kommandeur düster an. »Ich habe eine Meldung hereinbekommen. Larks und Nessa haben einen Scharfschützen in Gildenhang erledigt. Er hätte beinahe die Beati erschossen. Sie haben ihn erwischt, bevor er den Schuss setzen konnte.«

Mkoll zeigte Gaunt den Ort auf der Karte.

»Feth«, murmelte Gaunt. »Wirklich so tief drinnen?«

»Ja«, sagte Mkoll. »Ich glaube, sie haben mittlerweile Spezialisten, die sogar hinter unseren Linien arbeiten. Jedenfalls viel tiefer in der Stadt als ihre Hauptfront. Und sie sind hinter etwas her.«

»Hinter ihr«, sagte Gaunt.

Mkoll nickte.

Gaunt wandte sich an Beltayn. »Bei … rufen Sie die Beati. Sie oder jemanden bei ihr. Sagen Sie ihr, sie soll sich zu den Makropoltürmen zurückziehen. Meine Befehle. Sie sind hinter ihr her.«

Beltayn entfernte die Staubhülle von seinem Kom-Gerät. »Ich tue mein Bestes, Herr Kommissar«, sagte er.

»Ich habe Domor erreicht«, sagte er einen Moment später. »Er sagt, die Beati ist bei ihm. Er wird sie zum Rückzug drängen.«

»Sagen Sie ihm, er soll mehr tun, als sie drängen, Bel. Wenn sie stirbt, ist alles vorbei.«

Beltayn nickte und machte sich wieder an die Arbeit.

Granaten gingen ringsumher nieder. Alle duckten sich noch tiefer.

»Also gut«, sagte Gaunt. »Versuchen wir einen Ausweg aus dieser Rattenfalle zu finden. Ewler? Übernehmen Sie die Südseite da. Mkoll, Sie kommen mit mir. Sie auch, Bel.«

Sie liefen aus ihrer Deckung und wichen den umherspritzenden Trümmern und Flammen aus. Beltayn geriet mit seinem schweren Kom-Gerät ins Stolpern. Mkoll zog ihn auf die Beine und schob ihn in die Deckung eines Hauseingangs neben Gaunt.

Gaunts Energieschwert beseitigte das Schloss, und sie gingen in einen dunklen, zugigen Flur, in dem die von den Granatexplosionen draußen verursachten Luftdruckveränderungen wie ein Beatmungsgerät wirkten und Papierfetzen und Staub hin und her geweht wurden.

Es war stockdunkel. Mkoll trat eine Tür ein und machte den Weg in eine unordentliche Wohneinheit frei. Beltayn öffnete eine andere zu einem leeren Raum. Mkoll eilte weiter und machte mit seinem Stiefel eine weitere Wohnung begehbar.

»Mkoll!«

Mkoll ging zurück und gesellte sich zu Gaunt und Beltayn in der Tür des leeren Raums, die Beltayn geöffnet hatte.

Es gab nichts zu sehen, nur eine leere Wohneinheit. Kein Teppich, keine Läufer, kein Schirm an der Deckenlampe, kahle Wände. Eine Tür auf einer Seite, verschlossen. Ein Konsolentisch in der Mitte des Raums mit einem Buch darauf.

»Was ist denn los?«, sagte Mkoll.

»Geben Sie mir Deckung«, sagte Gaunt, als er den Raum betrat. Er hatte sein Schwert in die Scheide geschoben und dafür seine Laserpistole gezückt. Mkoll sah Beltayn an, der die Achseln zuckte.

Gaunt ging zu dem kleinen Tisch, der eigenartigerweise mitten im Raum stand, und griff nach dem Buch darauf. Es war alt. So alt, dass es auseinander fiel und sich in Staub auflöste.

Er öffnete den Deckel und las die Titelseite, obwohl er das unangenehme Gefühl hatte, genau zu wissen, was er finden würde. Es war eine weitere Erstausgabe von Über den Einsatz von Armeen von DeMarchese.

Er griff danach, und der Deckel schlug auf, wie von einem starken Windstoß aufgeblättert. Die Seiten wurden umgeblättert.

Gaunt starrte auf das offene Buch und fing an zu lesen:

Wenn ich in dieser Weise von einem Körper spreche, meine ich den Körper als Darstellung für eine bewaffnete Streitmacht. Für den Anführer wird diese Streitmacht zu seinem Körper …

Er wich einen Schritt zurück. Er hatte auf die Dinge geachtet, die ihm gezeigt worden waren, doch nun schienen sie sich mit wenig subtilem Nachdruck zu wiederholen. Hatte er so viel übersehen? War er zu unachtsam?

Die geschlossene Tür nebenan rappelte im Rahmen, wie von einem starken Windstoß erschüttert.

»Die Zeit wird knapp, Herr Kommissar«, rief Mkoll ihm aus dem Eingang zu.

Gaunt winkte die Zwei zu sich herein.

»Was soll das?«, fragte Beltayn.

»Herr Kommissar?«, sagte Mkoll.

»Tun Sie mir einen Gefallen. Begleiten Sie mich, und beweisen Sie, dass ich nicht verrückt bin.«

Gaunt öffnete die Tür.


ELF